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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0042
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Grundsätze des Philosophierens

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1. Als böse gilt die unmittelbare Hingabe an Neigungen und sinnliche Antriebe, an
die Lust und das Glück dieser Welt, an das Dasein als solches, kurz: böse ist das Leben,
das im Bedingten bleibt, daher nur abläuft und nicht entschieden wird. - Dagegen ist
gut das Leben, das all sein Tun unter die Bedingung des moralisch Gütigen stellt. Die-
ses moralisch Gütige wird verstanden als allgemeines Gesetz des moralisch je richti-
gen Handelns. Diese Geltung ist hier das Unbedingte.
2. Als böse gilt erst die Verkehrung, wie Kant sie verstand: dass das Unbedingte zwar
bis zu einem gewissen Grade gewollt, im Gehorsam gegen das Gesetz des Guten jedoch
nur soweit befolgt wird, als es unter der Bedingung einer ungestörten Befriedigung der
sinnlichen Glücksbedürfnisse möglich ist; nur unter dieser Bedingung, nicht unbe-
dingt will ich gut sein.26 - Dagegen ist gut das Sichherausholen aus dieser Verkehrung
des Bedingungsverhältnisses, die der Unterwerfung des Unbedingten unter die Bedin-
gungen des Daseinsglücks erwächst, und damit die Rückkehr zur eigentlichen Unbe-
dingtheit. Es ist die Verwandlung aus ständigem Selbstbetrug in der Unreinheit der
Motive zu dem Ernst des Unbedingten.
3. Als böse gilt erst der Wille zum Bösen, d.h. der Wille zur Zerstörung als solcher,
der Antrieb zum Quälen, zur Grausamkeit, zur Vernichtung, der nihilistische Wille
zum Verderben von allem, was ist und Wert hat. - Gut ist dagegen das Unbedingte, das
die Liebe und damit der Wille zur Wirklichkeit ist.
Auf der ersten Stufe ist das Verhältnis von gut und böse das moralische: die Beherr-
schung der unmittelbaren Antriebe durch den Willen, der sittlichen Gesetzen folgt.
Es steht - mit Kants Worten - die Pflicht gegen die Neigung.
Auf der zweiten Stufe ist das Verhältnis das ethische: die Wahrhaftigkeit der Mo-
tive. Es steht die Reinheit des Unbedingten gegen die Verkehrung des Bedingungsver-
hältnisses, in der faktisch das Unbedingte vom Bedingten abhängig wird.
Auf der dritten Stufe ist das Verhältnis das metaphysische: der substantielle Gehalt.
Es steht Liebe gegen Hass. Liebe drängt zum Sein, Hass zum Nichtsein. Liebe wächst
aus der Wirklichkeit der Transzendenz, Hass sinkt zum selbstischen Punkt in der Los-
lösung von Transzendenz. Liebe wirkt als stilles Bauen in der Welt, Hass als laute, Da-
sein und Sein im Dasein in Gefahr bringende Katastrophe.
Jedesmal zeigt sich eine Alternative, damit die Forderung der Entscheidung. Der
Mensch kann nur das eine oder das andere wollen, wenn er wesentlich wird. Er folgt der
Neigung oder der Pflicht, steht in der Verkehrung oder in der Reinheit seiner Motive,
lebt aus dem Hasse oder aus der Liebe. Aber die Entscheidung kann er aussetzen. Statt zu
entscheiden, kann er schwankend und taumelnd durch das Leben gehen. Schon diese
Unentschiedenheit ist böse. Es erwacht der Mensch erst, wenn er gut und böse unter-
scheidet. Er wird er selbst, wenn er in seinem Tun klar entscheidet, wohin er will.
Diese Entscheidung heisst der existentielle Entschluss. Das Unbedingte wird im un-
widerruflichen Entschluss ergriffen. Die Entscheidung hat auf jeder der drei Stufen ih-
 
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