Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0069
License: Free access  - all rights reserved

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
66

Grundsätze des Philosophierens

fenbarung verschwindet vielmehr, wenn man, sich auf sie berufend, sie als Halt gegen
Andere in der Welt gebrauchen will; der Mensch kann nur bereit sein, sie in unwieder-
holbarer Geschichtlichkeit zu hören und für sich auf sie zu bauen.
Die unlösbare Schwierigkeit zeigt sich in doppelter Spannung:
1) Das Allgemeine der gemeinschaftlichen Geschichtlichkeit ist nicht das Allge-
meingiltige der Wahrheit. Das Allgemeine als das rational Allgemeingiltige (wissen-
schaftliche Einsicht und sittliches Gesetz) ist zu unterscheiden von dem Allgemeinen
als dem geschichtlich Gemeinschaftlichen, an sich Uneinsichtigen (z.B. Bund mit
Gott, Abendmahl). Während das einsehbare rational-Allgemeine ein ständiges Me-
dium der Prüfung und Bewährung ist, ist das uneinsichtige geschichtlich-Allgemeine
eine Überlieferungsform als Gehäuse der Offenbarung. Während wir als einzelne Men-
schen, die vernünftig sein können, im gütigen Allgemeinen leben, dürfen wir als Men-
schen, die in Gemeinschaft auf andere angewiesen sind, uns der Überlieferung viel-
leicht auch der gemeinschaftlichen Absurdität nicht entziehen. Es ist eine Schuld,
gegen das geschichtlich Gemeinschaftliche zu verfehlen.
Es ist zugleich eine Erleichterung, ein Allgemeines als Gottes Stimme festhalten zu
dürfen. Daher drängt auch der Ernst des Einzelnen auf diesen Halt. Aber der Mensch,
der sich darin fixiert, versäumt den geschichtlichen Grund seines eigenen Wesens in-
bezug auf seine unmittelbar zu erfahrende Transzendenz (mit der unerlässlichen Ge-
fahr des Sichausbleibens und des Nichts).
2) Die Geschichtlichkeit der Gemeinschaft ist nicht identisch mit der Geschicht-
lichkeit des Einzelnen. Es ist nur eine glückliche Koinzidenz, wenn das gemeinschaft-
liche Allgemeine und die Geschichtlichkeit des Einzelnen sich treffen und steigern.
Wenn sie in Unterschiedenheit und dann in Spannung zu einander stehen, so ist die
Frage, welche Geschichtlichkeit der anderen untergeordnet wird.
Seit den Anfängen der Geschichte gilt zunächst allein und dann immer wieder die
Gemeinschaft aller als Führung. »Volkes Stimme ist Gottes Stimme«. Nur durch die Ge-
meinschaft trifft Gottes Führung den Einzelnen. Der Einzelne ohne die Gemeinschaft
fühlt sich vernichtet, ist nichts.
Aber in der Folge kann der Einzelne den Anspruch aus seinem eigenen Grunde ge-
gen die Überordnung des geschichtlich Allgemeinen hören. Es wird zur Schuld, sich
der Stimme der Transzendenz in der eigenen Geschichtlichkeit zu entziehen.
Die Geschichtlichkeit des Einzelnen ist untrennbar eingebettet in die Kommunika-
tion mit anderen Einzelnen und in die Welt des Geistes, durch die er zu sich kam. Die Ob-
jektivität der institutionellen Ordnungen der Gemeinschaft aller aber, von der staatli-
chen bis zu den übrigen, soll nur den Raum sichern, in dem die Geschichtlichkeit der
Einzelnen mit ihrer wirklichen Kommunikation mannigfaltig gedeihen kann. Dieser
Raum schafft Bedingungen, nicht Gehalte. Würde eine solche universale Gemeinschafts-
ordnung verwirklicht, so würde sie gelten als die Verlässlichkeit ihrer Formen und Funk-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften