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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0100
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Grundsätze des Philosophierens

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Was auch immer der religiöse Glaube sei, er setzt - bewusst geworden in denker-
hellten Zeitaltern wenn er wahr bleiben will, die anderen Weisen des »Glaubens«
voraus: die Gegenwärtigkeit in allen Weisen des Umgreifenden, die Überzeugung in
lebendigen Ideen, den philosophischen Glauben der Existenz an Transcendenz. Wenn
der religiöse Glaube eigene Wahrheit hat, muss er sich vor diesen anderen Weisen des
Inneseins, Überzeugtseins, Glaubens bewähren und ausweisen können. -
In den Weisen des Umgreifenden, das das Sein selber ist (Welt und Transcendenz),
hat Wahrheit einen radikal anderen Sinn. Hier ist sie nicht eine Weise des Glaubens,
sondern liegt im Sein als solchen.
Weltsein kann wahr heissen als real im Gegensatz zum Irrealen, als normentspre-
chend im Gegensatz zum Normwidrigen.
Transcendenz aber liegt jenseits des Gegensatzes von wahr und falsch. Wenn in un-
seren Vorstellungen, die die Transcendenz suchen, der Gegensatz auftritt, wenn Gott
und Teufel sich trennen, wenn also Gott wahr ist, weil er unwahr sein kann, dann ist
dieser Verfall in unseren Vorstellungen, unumgänglich für unsere menschliche End-
lichkeit, gerade zu überwinden zur Gegensatzlosigkeit der Transcendenz3.
b. Vernunft.90 - Allen Weisen des Wahrheitssinnes gegenüber bedarf die Wahrheit
der Vernunft einer besonderen Vergegenwärtigung. Aller Wahrheitssinn wird uns nur
dann rein offenbar, wenn er in der Bewegung der Vernunft geläutert ist.
Vernunft ist das Umgreifende in uns, das keinen eigenen Ursprung hat, sondern
gleichsam Werkzeug der Existenz ist. Sie ist von der Existenz her das Unbedingte in uns,
das uns offen hält. Sie verwehrt es, sich abzufinden, in Sackgassen zu geraten, in einer
noch so verführenden Enge zufrieden zu sein, zu vergessen und vorbeizugehen an dem,
was real ist, sich zu fixieren in irgendeinem Sinn von Wahrheit, der nicht alle Wahrheit
in sich schliesst. Vernunft drängt darauf, nichts fallen zu lassen, zu allem, was ist, in Be-
zug zu treten, über jede Grenze hinaus zu suchen, was ist und sein soll, noch die Gegen-
sätze zu umspannen und immer das Ganze, dann wieder den notwendigen Durchbruch
durch dieses Ganze ins Auge zu fassen. Vernunft verwehrt abschliessende Harmonie und
treibt doch an, jede mögliche Harmonie von Ganzheiten zu ergreifen. Sie geht auf das
Äusserste, um des eigentlichen Seins inne zu werden und um den eigenen Ursprung zu
weitester Verwirklichung zu bringen. Wenn sie aber das Radikalste in uns ist, so zugleich
das Wahre, das zur Bedingung alles anderen Wahren wird. Ihre existentielle Wurzel ist
nicht ein Zerstörungswille, wie er in der Endlosigkeit der intellektuellen Sophistik sich
auswirkt, sondern Liebe in der Unendlichkeit der Gehalte. Für sie gilt zwar die Forderung
zu zweifeln, aber um die Wahrheit rein zu gewinnen; nur in diesem Sinne gilt ihr das de
omnibus dubitandum. Als leeres Werkzeug blossen Denkens würde sie nihilistisch, als
in Existenz gegründet ist Vernunft die Rettung auch vor dem Nihilismus, weil sie aus exi-

nach Transcendenz in der Abschrift Gertrud Jaspers gestr. , wenn wir uns Gott nähern
 
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