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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0107
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Grundsätze des Philosophierens

Erst wenn der Zweifel auftritt, frage ich nach Begründung und Vergewisserung.
Wenn der Zweifel radikal wird, frage ich nach der Weise, in der ich weiss, nach ihrem
Sinn und ihren Grenzen. Es ist nun ein Grundfaktum unseres Denkens, dass es vielfa-
che Weisen des Denkens, des Erkennens, des Sinns von Sache und Gewissheit gibt.
Seinssinn und Wahrheit, für uns jeweils nur in einer Weise des Denkens gegenwärtig,
werden befragt nach den Denkformen (Kategorien), in denen, und nach den Methoden,
mit denen sie gedacht werden. Kategorienlehre und Methodenlehre sind ein Grundriss
des Philosophierens, durch dessen Übersicht und Beherrschung der Denkende nicht nur
weiss, sondern weiss, wie und wodurch er weiss.92 Aus diesem umfangreichen, aber in Sy-
stematik durchsichtigen Gebiet weisen wir beispielsweise auf einige Punkte hin:
a. Grenzen des Denkenkönnens. - Alles, was für uns ist, wird im Denken gegenwär-
tig. Aber der Raum des Denkbaren umfasst nicht alles, was ist. Dass die Unbeschränkt-
heit des Denkenwollens doch eingeschlossen bleibt auf einen Bereich, der allein ihm
eigentlich zugehört, ist fühlbar im Scheitern des Denkens. Es ist für unser Seinsbe-
wusstsein entscheidend, ob wir dieser Grenze gewiss werden, oder ob wir meinen, uns
im Denken allumgreifend des Seins zu bemächtigen.
Was aber das ist, woran das Denken scheitert, dieser Grund des Seins, ist zwar für
uns nicht denkbar, aber doch allein durch Denken fühlbar. Wir berühren es im Den-
ken durch Nichtdenkenkönnen.
Es sind die hohen Augenblicke des Philosophierens, wo der Gedanke gleichsam ver-
stummt. Wir stehen vor etwas, das durch Fragen erreicht wurde, ohne uns weiter fragen
zu lassen. Es ist, als ob der Atem stille stände, als ob Schweigen die Seinsfülle bringe.
So treten wir vor jede Realität mit der Frage nach ihrer Möglichkeit; sie könnte auch
anders sein; bis wir vor die Wirklichkeit geraten, die keine Möglichkeit mehr zulässt,
vielmehr durch die Weise ihrer Wirklichkeit die Fragen erlöschen lässt.
Alles Fragen geht gleichsam in Reihen voran und jede Frage geht als ein Schritt in
der Reihe. Es ist ein Sprung in ein anderes Seinsbewusstsein, wenn nicht mehr gefragt
wird am Ende der Reihe.
In jeder Bestimmtheit einer Antwort liegt etwas, das weitere Frage ermöglicht und
berechtigt macht. Erst wo der Sinn der Antwort nicht mehr gegenständlich ist, son-
dern in das Umgreifende weist, da ist weitere Frage sinnwidrig. Wer weiter fragt, hat
nicht verstanden, ist nicht berührt worden, entbehrte der Erfüllung. Er vollzieht im
Denken, wenn er es hier noch weiter treibt, ein leeres Tun, - oder er frevelt.
In frühen Urerfahrungen des Philosophierens kommt das - noch in Verbindung mit
magischen Vorstellungen - grossartiger zum Ausdruck als später, wenn Denkformen und
Redewendungen wie ein billig gewordenes Wasser in nicht zu bewältigender Menge dem
Gedankenlosen zur Verfügung stehen. So endet ein Dialog in den Upanischaden (Briha-
daranyaka-Up. 3,6): »O Gargi, überfrage nicht, damit dir dein Kopf nicht zerspringe! Du
überfragst eine Gottheit, die man nicht überfragen darf; o Gargi, überfrage nicht!«93
 
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