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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0118
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Grundsätze des Philosophierens

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Sehen wir in der Grundsituation die erfüllenden Daseinssituationen, so nennen
wir Grenzsituationen die das Scheitern des Daseins erzwingenden, welche dem Men-
schen als Menschen zukommen: Leiden und Tod, Kampf und Schuld.98
Denken wir an das Allgemeine der Situationen, das vom menschlichen Dasein un-
abtrennbar ist, so nennen wir Ausnahmesituationen solche, die den Einzelnen tref-
fen, ohne notwendig allgemein zu sein, etwa in völliger Ohnmacht ausgesetzt zu sein
einer Gewalt, z.B. drohender Folterung. Der Gedanke einer Ordnung stellt solche Si-
tuationen ausserhalb der Ordnung, was zur Folge hat, dass allgemeingültige Forderun-
gen an das Handeln, die gegebene Ordnungen als bestehend voraussetzen, in den Aus-
nahmesituationen nicht mehr gelten.99
Es ist zu unterscheiden: die objektive Situation, wie sie für einen wissenden Beob-
achter besteht, und welche die realen Zusammenhänge faktisch lenkt; die gewusste Si-
tuation, wie sie von dem in ihr Stehenden erkannt ist; die ergriffene Situation, wie sie
durch Eingriff verändert oder auf die durch Handeln reagiert wird.
Die Vieldeutigkeit der Situation liegt nun darin, dass sie niemals - weder von dem
in ihr stehenden Menschen, noch von einem menschlichen Beobachter - völlig über-
blickt wird, daher immer verborgene Möglichkeiten in ihr bleiben, - weiter darin, dass
der handelnde Eingriff sie auf eine nie völlig berechenbare Weise ändert, - schliesslich
darin, dass jede Auffassung im Ganzen nur eine Auslegung ist.
Die Unterscheidung von Grundsituation, Grenzsituation, Ausnahmesituation ist
relativ. Alle bestimmte Situation ist als solche nicht allgemein, insofern steckt in jeder
concreten Situation eine Ausnahmesituation. Was als Ausnahmesituation erscheint,
kann eine Offenbarung der Grundsituation sein. Grenzsituationen, zumal in extre-
men Ausnahmesituationen erscheinend, können lange verborgen und dann unwirk-
sam bleiben, bis sie bei plötzlicher Sichtbarkeit den Unvorbereiteten kopflos machen;
in den Grundsituationen liegen die Grenzsituationen gleichsam sprungbereit.
Die Vieldeutigkeit des Sinnes von Situationen zeigt sich in den Weisen des Han-
delns, mit denen wir auf Situationen reagieren, z.B.: Die endlichen, bestimmten Situa-
tionen werden genutzt, man bringt sie hervor, lässt sie entstehen, um dann ihre
Chance zu verwirklichen, oder man verhindert sie, oder man lässt sie reifen, arrangiert
sie, verwandelt sie also in der mannigfachsten Weise. - Auf die Situation antworte ich,
statt sie zu verändern, mit einer Selbstverwandlung; so erwacht die Existenz durch in-
neres Handeln in Grenzsituationen. - Ich fasse die Situationen reflektierend auf unter
allgemeinen Kategorien, aus denen das in ihnen geforderte Handeln bestimmbar ist,
oder ich fasse Situationen als Ausnahmesituationen auf, um die sonst bestehende all-
gemeine Forderung zu suspendieren.
3. Das Handeln. - Handeln umfasst die Gesamtheit unserer Aktivität. Das äussere
Handeln entspringt den Ergebnissen des inneren Handelns. Da alles Handeln ange-
 
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