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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0122
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Grundsätze des Philosophierens

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der Tyrannen an die gemeinen Antriebe, sich vielmehr an die aufschwingenden Mög-
lichkeiten im Menschen zu wenden, es gibt das Wagnis an der Grenze zum Unmögli-
chen, das grosse Gelingen und das hellsichtige, echte Scheitern.
dd. Man lebt und handelt ad hoc, zufällig, dem Reden aller gemäss, von wechseln-
den Situationen überwältigt, chaotisch (sofern nach Sinn gefragt wird), eine Weile mit-
getrieben, und geht bald ohne Wirkung zugrunde.
Demgegenüber sind die vorher geschilderten Handlungsweisen solche unter Füh-
rung, sei es nach Machtprincipien ohne Gehalt (nihilistisches Machtethos), sei es nach
abstrakten Principien und Idealen (Gesinnungsethik und Gesetzesethik), sei es nach
Ideen in der Wirklichkeit (Verantwortungsethik).
Auf die Fragen: Was tue ich? was soll ich tun? gibt es daher eine eindeutige Antwort
nur in bezug auf bestimmte, zweckhafte, partikulare Inhalte meines Wollens. Darüber
hinaus ist alles Antworten in der Form dialektisch, im Gehalt gerichtet auf das Ge-
schichtliche, d.h. der Gedanke erhellt die Möglichkeiten, bewegt sich in Gegensätzen,
fordert ein Verhalten zu Denkbarkeiten und zur Auffassung aller zugänglichen Reali-
täten. Damit aber wird kein Ziel und kein Weg errechnet, sondern nur der Raum er-
hellt für den, der in geschichtlicher Situation am Ende den Entschluss im Blick auf das
wahre Sein zu finden vermag.
4. Die ursprüngliche Ergriffenheit des Menschen. - Was ist, ist uns zwar entschei-
dend durch Praxis, d.h. durch unser Handeln, zugänglich. Aber es erwächst uns zugleich
aus unserer Zuständlichkeit, mögen wir sie Stimmung, innere Verfassung, ursprüngli-
che Ergriffenheit des Menschen nennen. Gegenüber den beliebigen intellektuellen Be-
wegungen hat alles gehaltvolle Denken, hat unser Sichzurechtfinden in der Welt seinen
Grund und seine Führung in Praxis und Ergriffenheit.
Wir können die ursprüngliche Ergriffenheit absolutes Bewusstsein nennen im Ab-
heben vom relativen Bewusstsein des psychologisch erforschbaren Daseins. Dieses ab-
solute Bewusstsein erscheint im Schwindligwerden beim Sichöffnen der Raumunend-
lichkeit des Umgreifenden, im Gewissen beim Entscheiden und beim Beurteilen seiner
selbst, in Scham und Ironie beim Sichschützen durch Verborgenheit im Sichoffenba-
ren. Für das Seinsbewusstsein wesentlich sind folgende Ergriffenheiten:
a. Staunen: Was als Neugier ein Antrieb des Daseins ist, setzt sich um in die Betrof-
fenheit, aus der der Mensch staunt, dass dieses so ist, dass etwas ist, dass er ist. Das All-
täglichste und in Gewohnheit Selbstverständlichste ist plötzlich wie neu. Diesem Stau-
nen entspringt das ursprüngliche Wissenwollen.
b. Angst: Das Dasein hat Angst, bestimmte vor greifbaren Bedrohungen, unbe-
stimmte durch Bedrohtheit überhaupt, die ihm den Tod bringt. Daseinsangst setzt sich
um in Angst um Wahrsein und Gutsein des eigenen Wesens als des eigentlichen Seins
im Gegensatz zur vergänglichen Nichtigkeit. Aus dieser Angst erwächst ein ursprüng-
liches Seinsbewusstsein im Entscheiden zwischen Sein und Nichts.
 
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