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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0130
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Grundsätze des Philosophierens

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Leben will abgesondert, einsam, ohne Anspruch nach aussen nur noch der Medita-
tion dienen, in der das Sein gegenwärtig wird.
Aber alle Wege aus der Welt hinaus, die in den grossen Kulturen oft und erstaun-
lich mit grossartiger Consequenz beschritten wurden, bleiben doch faktisch immer
unter Bedingungen des Weltseins.
Es bleiben die sociologischen Bedingungen: ob man solche Wege erlaubt, diese
Menschen ernährt oder sich ernähren lässt, sie nicht zur Teilnahme an der allgemei-
nen Arbeit zwingt. Das geschah überall, wo diese Menschen als heilig galten, hört aber
auf, wo solche Schätzung nicht mehr besteht. Dann gibt es nur noch den klaren, un-
verschleierten direkten Selbstmord.
Es bleiben die natürlichen Bedingungen: ob der Körper des Weltflüchtigen das as-
ketische Leben aushält, wie schnell er durch Krankheit vernichtet wird. So lange der
Mensch lebt, muss er etwas Weltliches tun, um sein Dasein zu erhalten.
Mit Weltflucht und Heiligkeit ist daher eine Täuschung verbunden, denn es wird
etwas verschleiert, dessen offene Anerkennung den Sinn des Tuns in Frage stellt oder
aufhebt: die faktische Weltabhängigkeit, die aktive Teilnahme an Bedingungen des
Daseins, also auch die damit verknüpfte Schuld.
Die reale Unmöglichkeit, die Welt zu verlassen, während ich zugleich in ihr bleibe,
kann zur Quelle einer Spaltung werden. Der Mensch lebt zwei Leben, das eine in der
Welt, das andere unbeteiligt ausserhalb der Welt. Dieses Verhalten zur Welt ohne Teil-
nahme, ohne Verantwortung, in preisgebender Distanz nimmt viele Gestalten an. Je-
desmal verwandelt sich eine unumgängliche Spaltung - der Selbstreflexion, der Welt-
betrachtung, des Klarwerdens - in ein unverbindliches Nebeneinander. Das von der
Welt Abgespaltene greift nicht mehr in die Welt ein.
Ich durchleuchte nicht mehr meine Affekte, damit sie in der Aufhellung rein und
wahr werden, sondern ich beobachte sie, sodass sie sich abschwächen. Ich erfahre die
Affekte nicht mehr als meine, für die ich verantwortlich bin, sondern als Naturgesche-
hen, das mich nichts angeht, während ich es als ein Sogeschehen feststelle.
Ich übernehme nicht mehr mein Dasein als meines, sondern werde Zuschauer die-
ses Daseins. Ich löse mich von mir selber als ein blosser Begleiter dieses Daseins. In der
Weltverstrickung lasse ich mich los in diese Welt und beobachte, was dabei geschieht.
Zur Welt verhalte ich mich, indem ich die Erscheinungen als Erscheinungen auf-
fasse und nicht weiter frage. Aber ich registriere als ein punktueller Zuschauer, unbe-
irrbar, selbstbewusst in der Kraft passiven Blickenkönnens bei vitaler Aktivität des nur
anhängenden Daseins, wahrhaftig, ein blosses Auge, ein Wesen von kalter und erkäl-
tender Atmosphäre, ein Nichts, das lebt aus dem Aushaltenkönnen des Nichtseins.
Die Grunderfahrung des philosophischen Seinsinnewerdens ist in den Upanischa-
den ausgesprochen mit dem Satze: erlöst ist, der dieses weiss; wobei noch Glaube an
magische Wirkung des Wissens ineins geht mit der Erfahrung der Freiheit im meta-
 
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