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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0143
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Grundsätze des Philosophierens

gleich ein Kampf gegen die eigenen Wünsche und Erwartungen. Dem Forscher ist der
Verdacht gegen jeden Gedanken eigen, der ihm ohne weiteres befriedigend und über-
zeugend ist. -
Mit dieser Charakteristik ist in Kürze auf die Verwicklung im Wahrheitsantrieb der
modernen Wissenschaft hingewiesen. Das wissenschaftlich richtig Erkannte hat zwar
universale Giltigkeit für den Menschen überhaupt. Dass aber dieses Gütige in allen sei-
nen Weisen und in unbegrenztem Ausmass gesucht und gefunden wird, beruht auf
Antrieben, die ihren einmaligen geschichtlichen Grund haben.
Der Schöpfergedanke, der das Geschaffene als von Gott geschaffen liebenswert
macht und eine Wirklichkeitsnähe ermöglicht, die zugleich wieder die grösste Distanz
in sich birgt als zu dem Sein, das doch nur Geschaffensein, nicht Gott selbst, nicht das
Sein selbst ist, - dann das Ringen um das Bild der Gottheit, ja um den Gottesgedanken
selbst, - dann der von Gott geforderte Wahrheitsanspruch, der das Erkennen nicht als
ein Spiel treibt, als edle Beschäftigung der Musse, sondern als einen Ernst, der im Erken-
nen einen Beruf sieht, in dem es um Alles geht, - diese drei Motive mussten zusammen
wirksam sein, um die eigentliche hohe Wissenschaft zu ermöglichen. Daher ist diese
Wissenschaft keineswegs schon mit dem Christentum entstanden, auch nicht etwa
schon mit dem Eintritt der nordischen Völker in die Geschichte, sondern erst in einer
geistigen Constellation, in der die verschiedenen Motive zusammentrafen in einer Ver-
wicklung, die sie aufeinander wirken liess. Das geschah nach einer langen Zucht des Den-
kens unter den hinzukommenden Bedingungen sociologischer Art und persönlicher
Veranlagung seit dem 14. Jahrhundert in der Zeit[,] als der Glaube schwankend wurde,
ohne als Kraft schon gelähmt zu sein. Gerade aus der damals sich vollziehenden letzten
Vertiefung der christlichen Antriebe in Folge des Ringens im Innersten der Seele entfal-
tete sich die Wissenschaft, und zwar mit diesen erstaunlichen Verschlingungen in der
Weise des Wissenwollens: ein schlechtes Gewissen konnte sich mit dem Vollzug der For-
schung verbinden, - die Frömmigkeit selbst wurde Motiv der Forschung und dann ver-
warf diese selbe Frömmigkeit wieder die eigene Forschung, - der Jubel des Entdeckens
wurde manches Mal mit dem Entsetzen des Entdeckers vor seiner Tat bezahlt, - die Scheu
hemmte, aber im Durchbrochensein machte sie die Leidenschaft des Entdeckens nur
umso stürmischer. In der einmaligen geschichtlichen Situation erwuchs im Kampf der
Antriebe mit sich selbst ein Äusserstes an Möglichkeiten. Die Leidenschaft des Wahr-
heitsverlangens wurde auf den Gipfel getrieben. Der Grieche kam in der Wissenschaft
so weit, wie Unbefangenheit und heller Blick führen können. Er kam nicht in jene Tiefe,
wohin nur das Bewusstsein unlösbarer Spannungen, wohin der ruhelose innere Kampf
drängt. Was infolge solcher Spannungen an Erkenntnis offenbar werden kann, haben
erst die neueren Jahrhunderte gezeigt.
cc. Die Bewegung zur nova scientia: Der Ursprung moderner Wissenschaft ist nicht
auf ein einziges Moment zurückzuführen. Zu den inneren Antrieben, von denen die
 
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