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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0149
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Grundsätze des Philosophierens

benden, tapferen Haltung verbunden ist, muss sich aus diesen Trübungen ständig
wieder herausarbeiten. Was der Antrieb zur Vernunft war und mangels genügender
Führung unvernünftig wurde, sucht den Weg zur Vernunft zurück.
Diese Stimmungen nun stehen keineswegs in Zusammenhang mit der modernen
Wissenschaft, sondern nur mit der unkritischen Aufklärung, wie sie analog schon in
vielen Zeitaltern und Kulturen war, dann mit der Welt der Technik als Lebensmedium,
schliesslich mit den ungeheuren Enttäuschungen, die das Zeitalter von Jahrzehnt zu
Jahrzehnt mit sich brachte. Diese Stimmungen verfehlen die Wissenschaftlichkeit. In
ihnen erwachsen vielmehr das unkritische Meinen, der gedankenlose Zweifel im Gan-
zen bei gleichzeitiger Neigung zu Dogmatik im Besonderen, eine Tendenz zum Aber-
glauben. Gerade die Wissenschaft aber und die durch sie mögliche wissenschaftliche
Haltung im Ganzen kann nicht nur diese Irrwege beseitigen, sondern dem wahren
Grunde in der modernen Nüchternheit zur Entfaltung helfen.
1: Wissenschaft befreit vom Aberglauben. Der Aberglaube, alle Zeit mächtig, be-
handelt als Realität, was Phantasie, oder was mögliche vieldeutige Sprache der Wirk-
lichkeit, oder was ein sich bewegender Ausdruck umgreifender Gehalte ist; er fixiert
als Objekt (macht zum Ding), was dann als solches nur noch Illusion ist. Der Mensch
hat fast unüberwindbare Antriebe, aus Wunsch oder Furcht etwas für real zu halten,
was ihm dann einfach feststeht, ohne das[s] Gründe dafür oder obgleich sogar Gründe
dagegen vorliegen. Was in Astrologie, Occultismus, Theosophie, homöopathischen
Therapien, übersinnlich-sinnlichen Diagnostiken prakticiert wird, ist eine Trübung
des Menschseins. Menschen, die darin leben, scheinen uncorrigierbar. Ihr Argumen-
tieren kann ausserordentlich intelligent sein, obgleich sie die einfachen Instancen wie
blind nicht sehen, wie taub nicht hören. Es ist wie ein gesunder Wahn, der sich vom
kranken dadurch unterscheidet, dass in seinem Inhalt sich viele Menschen miteinan-
der verbinden können. Es ist eine Haltung, die unfähig scheint, das Faktische anzuer-
kennen. Dass etwa - ein harmloses Beispiel - bei Mondwechsel Wetterveränderung
eintritt, wird immer wieder »aus der Erfahrung« behauptet, obgleich methodische Sta-
tistik den Nachweis geliefert hat, dass hier ein Zusammenhang nicht besteht. Oder
man nimmt ohne weiteres als faktisch gegeben an, was garnicht faktisch ist, und ent-
wirft so Theorien für etwas, das es garnicht gibt, unter der wie selbstverständlichen
Voraussetzung, dass es festgestellt sei. Bei Ungewissheiten beruft man sich auf die Un-
gewissheit aller wissenschaftlichen Ergebnisse, um daraus schon die Bejahung des
Möglichen zu rechtfertigen. Man hat kein Gewissen für den Stachel des Widerspruchs,
weder für das[,] was der Erfahrbarkeit und der geschehenen Erfahrung widerspricht,
noch für das, was sich selbst widerspricht. Man behandelt als notwendig - »es muss so
sein« -, was metaphysischen Gesetzen, die man erkannt zu haben glaubt, entspricht
und folgert daraus praktische Handlungen und theoretische Anerkennungen, welche
zu fordern seien. Man zieht zu Begründungen, wenn diese in schlichten Evidenzen der
 
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