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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0205
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Grundsätze des Philosophierens

Sie sind in ihrem Nacheinander durch allgemeine Gesetze des Geschehens nicht zu
verstehen. Zwischenglieder und Übergänge fehlen durchweg oder sind von der Art,
dass ihr Zwischengliedcharakter im Sinne zeitlicher Entwicklung (nicht im Sinne zeit-
loser, in sich zusammenhängender Gestaltungsmannigfaltigkeit) zweifelhaft ist. Also
wird es wahr sein: Entweder dass Gott das Leben mehrere Male nach Katastrophen neu
geschaffen hat, - oder: dass Gott die Welt vor 6000 Jahren geschaffen hat derart, dass
er eine Vergangenheit samt ihren Fossilien mitschuf, die in der Tat niemals gelebt ha-
ben, sondern von vornherein als eine blosse Vergangenheit geschaffen wurden.153
Aber der Schöpfungsgedanke bedeutet keine Einsicht, weder bei einmaliger, noch
bei mehrmaligen Schöpfungen. Die handgreiflichen Reste früheren Lebens in den Ver-
steinerungen aber aufzufassen als etwas, das nie aus einem wirklich Lebendigen ent-
standen, sondern von vornherein als leblose Vergangenheit in Erscheinung getreten
sei, widerspricht dem Augenschein und der Weise, wie wir ständig unsere Umwelt auf-
fassen müssen, um in ihr orientiert zu sein.
c) Woher kommt der Mensch? Man sagt: Der Mensch muss aus affenähnlichen Vor-
fahren sich entwickelt haben. Aber die concrete Vorstellung dieser Entwicklung an Hand
der ausgegrabenen Reste von Menschen und von Wesen, die man als menschenähnlich
anspricht, scheitert an der Aufgabe, die Brücke zu überwinden, die zwischen jedem Tier-
sein und dem Menschsein bis in das Physiologische3 hinein radikal und grundsätzlich
bestehen. Also - so ist gedacht worden - wird es wahr sein: den Menschen gab es von je-
her seit Beginn der Dinge. Die Lebensgestalten der Erdzeitalter wurden gleichsam zu
wechselnden Kleidern des Menschseins. Er nahm Formen an, die ihn Fischen, Reptilien,
Affen äusserlich ähnlich sein liessen, obgleich er dem Wesen nach immer Mensch und
niemals eine dieser Tierarten war. Denn der Mensch stammt immer nur vom Menschen
ab. Er stammt her vom Uranfang der Dinge. Und weiter: Nicht der Mensch stammt vom
Affen ab, sondern die Affen vom Menschen als denaturierte Menschen. Ja noch mehr:
alles Leben ist das vom einen Baum der Menschwerdung abgefallene Leben, das blos noch
Leben ist, in die Sackgassen der Organspecifikationen geraten, unfähig, aus sich Höheres
noch hervorgehen zu lassen, aber das eigene Wesen herleitend aus dem Höheren des
Menschseins. Der Mensch geht durch die Zeit, um sich lässt er zurück, was auf jeder Stufe
seiner Erscheinung aus ihm durch Entartung, Einengung, Verlust entstehen kann. Viel-
leicht sind wir heute auf dem Wege, im grössten Stil mit der Technisierung des Menschen
eine neue Entartungsweise als blosses Leben einer Tierart aus dem Menschen hervorge-
hen zu lassen: die Frage ist, ob und in welcher Gestalt dann das eigentliche Menschsein
mit neuen Möglichkeiten in diesem Massenprocess den schmalen Weg seiner Zukunft
findet, um das Menschsein zu werden, das einst - selber gering an Menge - um sich herum
die Menschenameisen sehen wird, so zahlreich, wie die Insekten.

statt Physiologische im Ms. physiologische
 
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