Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0229
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
226

Grundsätze des Philosophierens

schichte ist daher keine konstant geltende. Jede Auffassung ist vielmehr erstens nur
eine partikulare Perspektive und zweitens giltig für den Augenblick. Das Handeln aus
der Auffassung der Geschichte und ihrer gegenwärtigen Situation ist daher stets nur
ein Versuch mit einer sich geistig notwendig verwandelnden Auffassung, für die stets
auch wesentliche Faktoren des realen Geschehens verschleiert bleiben.
Das Grundphaenomen der Spaltung von Wissen und Realität bedeutet die Aufgabe,
beide in Übereinstimmung zu bringen. Dies zwingt zur ständigen Horizonterweite-
rung des historischen Wissens (i). Dabei liegt in der Wahrheit des Wissens jederzeit
auch eine noch unbemerkte, zu corrigierende Falschheit; und darin liegt die Möglich-
keit, dass seitens Herrschender das Aufdrängen eines falschen Wissens als Machtmit-
tel benutzt wird (2). Erweiterungsdrang und Wahrheitsdrang aber erfahren im histo-
rischen Wissen ihren letzten Antrieb aus der geschichtlichen Existenz selbst (3).
1. Horizonterweiterung des historischen Wissens: Dass für das geschichtliche Wis-
sen im Erfahren der Gegenwart und des Vergangenen doch immer neues Ungewusstes
und daher Unergriffenes fühlbar wird, ist ein Zeichen dafür, dass alles geschichtlich
wirkende Wissen von der Geschichte sich im Umgreifenden eines Unaussagbaren voll-
zieht. Es gibt daher keine wahre Totalauffassung. Infolgedessen gibt es auch kein wirk-
lich totales Handeln (äusser der Negativität der totalen Vernichtung), sondern immer
nur ein Handeln, wie ein Erkennen, im Umgreifenden. Aber aus diesem Umgreifen-
den kommt die Zugkraft: Will ich das, worin und wodurch ich lebe, anschauen und
wissen, so muss ich dieses Wissen unablässig erweitern.
Wie der Mensch seine Geschichte weiss, das entfaltet sich vom unmittelbaren Ori-
entiertsein in seiner Welt bis zur Wissenschaft von der Geschichte. Dann reflektiert
dieses geschichtliche Wissen noch einmal auf sich selber. Die geschichtlichen Auffas-
sungen, die schon vollzogen wurden, werden Gegenstand einer der Geschichtlichkeit
im Ganzen sich hell bewusst werdenden Auffassung. Die so entstehende Geschichts-
philosophie ist nicht mehr eine täuschende Totalanschauung, in der im abschliessen-
den Bilde vermeintlich das Ganze ergriffen wird, sondern Erhellung der Geschichte
als des umgreifenden Geschehens des Menschheitsganzen.
2. Täuschung durch Scheinwissen: Immer wird, was der Mensch als seine histori-
sche Situation, als gegenwärtige Realität und Möglichkeit, als Erwartung und Ziel
weiss, Voraussetzung seines Handelns. Was er tut, ist von seinem Wissen abhängig,
und zwar gleicherweise, ob dieses Wissen nun eine treffende Auffassung oder eine fal-
sche Meinung ist. Daher ist das Wissen, das verbreitet wird, ein Machtmittel. Herr-
schende sind in der Lage, auch ein falsches Wissen zu verbreiten, aufzuzwingen, da-
mit Menschen sich danach richten und das von den Herrschenden Begehrte3 tun.

Begehrte im Ms. Vdg. für Geforderte
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften