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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0239
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236 Grundsätze des Philosophierens
Die Kontinuität des Fortgangs bei immer wiederholter Unterbrechung durch den
Wechsel der Generationen vollzieht sich im Process des Verstehens, des verstehenden
Verwandelns des Überkommenen, des Aneignens, des Neuschaffens oder des ur-
sprünglichen Sehens dessen, was verborgen im Ansatz der früheren Generationen
schon lag oder liegen konnte. Alles Verstehen der Überlieferung ist abhängig von dem
vorgegebenen Verstehbaren, das schon seinerseits verstanden hat. Das aneignende
Verstehen ist daher nicht ein Finden dessen, was damals in der Vorzeit eigentlich ver-
standen war, sondern im Verstehen leuchtet das Ursprüngliche auf, das jederzeit war
und immer ist, aber in dieser Gestalt nur jetzt sein kann. Es ist eine Selbsttäuschung,
wenn man meint, eigentlich richtig zu verstehen und nur zu wiederholen, was in ei-
nem vergangenen Werk ausgesprochen ist; es ist die Verwechslung der Rückkehr zum
Ursprung, der jederzeit ist, mit der Rückkehr zum Anfang, der damals war. Eine Selbst-
täuschung ist die Meinung, man könne rein objektiv wissenschaftlich verstehen, was
in der Vorzeit verstanden und gemeint war; das gilt nur für die unteren Stufen der ver-
stehbaren Formen und Richtigkeiten, nicht für den Gehalt des Verstehbaren.
6. Die Gegenwärtigkeit jedes Geschichtsbildes: jederzeit lebt der Mensch unter be-
stimmten Naturbedingungen in einer der jeweiligen Technik entsprechenden Arbeits-
weise und Organisation der Arbeit zu einer geordneten Gesellschaft. Die sociologi-
schen und politischen Zustände sind verbunden mit einem Welt- und Seinsbewusstsein,
dessen Wirklichkeit andere Zustände nur in Erinnerung und objektiver Vorstellung,
nicht als eigene Wirklichkeit erfahren kann. Daher kennen wir jede Weise unseres
menschlichen Weltseins unvollständig und somit falsch; die gegenwärtige über-
schauen wir nicht, weil wir selber darin sind und noch nicht wissen, welche Wirklich-
keit in ihr beschlossen sein wird; die vergangene haben wir nicht wirklich gegenwär-
tig und kennen sie nur in aesthetischer oder rational vergegenwärtigender Anschauung.
Nirgends ist der Boden fest. Aber die Weise, wie in dieser Bodenlosigkeit das Geschichts-
bild sich verwirklicht, bleibt in aller Erweiterung des Forschens und Vergegenwärtigens
des Fremden doch verwurzelt in dem geschichtlichen Augenblick dieses Zeitalters in
dieser Lage des Denkenden, wenn auch dieser Augenblick und diese Lage niemals als
überschaubares3 Etwas vor Augen stehen, sondern erfahren werden als zeitliche Er-
scheinung des Unergründlichen der ewigen Gegenwart.
Dabei hält der je Gegenwärtige sein Bild für das wahre. Der Lebende hat immer
Recht, vielmehr will immer Recht haben, und tut, was er kann, um dies durchzuset-
zen. Die Toten scheinen wehrlos. Sie werden vergewaltigt in der Umdeutung durch die
Lebenden, werden zum Panier für etwas, das sie selber bekämpft haben oder das ihnen
fremd war, werden missbraucht als Kampfmittel und in ihrem Wesen vergessen.

überschaubares im Ms. Vdg. für erkennbares
 
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