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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0273
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Grundsätze des Philosophierens

zu verwandeln. Das Verlorene kann aus seinen Spuren wieder an den Tag kommen, das
Vergessene aus den Dokumenten wieder verstanden werden. Was verschwunden war,
kann wieder ein Teil der Überlieferung werden. Glaubensanschauungen und sittliche For-
derungen, Unterscheidungen von Gut und Böse, Recht und Unrecht, politische Ideen,
die einmal überwunden schienen, treten wieder in das geschichtliche Dasein. Über die
Jahrhunderte und Jahrtausende knüpft sich das vielleicht für lange Zeiten zerrissene
Band. Die Wirkungen des einmal errungenen Sieges in Anschauungen, Urteilen und Da-
seinsgestaltungen können von Späteren in der geistigen Anschauung und der ihr folgen-
den Weltverwirklichung bekämpft werden. Wenn durch solche Erneuerung der Besiegte
am Ende zum Sieger werden kann, so wird auch diesem Geschehen gegenüber wieder die
Frage möglich. Denn kein Geschehen ist endgültig. Aus dem Umgreifenden der Ge-
schichte im Ganzen, die niemand weiss und über die niemals jemand verfügen wird, ge-
schieht der für uns unendliche Process dieser Revisionen.
Das Erregende der Geschichte ist daher ihre Forderung, zu dem blos realen Gesche-
hen aus dem Umgreifenden aneignend Stellung zu nehmen. Voraussetzung für die
Wahrheit solchen Stellungnehmens ist das Wissen des Tatsächlichen. Daher ist es eine
Teufelei jeweils herrschender Gewalten, die Erinnerung und die Möglichkeit der Erin-
nerung auszulöschen und damit Wahrheit und Wirklichkeit zu verhindern zugunsten
einer Machttendenz, die durch Betrug nicht nur die Gegenwart[,] sondern auch die
Zukunft beherrschen will.
Keine Stellungnahme ist von aussen möglich. Von aussen bleibt sie abstrakt, ohne
Teilnahme, ohne anschauenden Blick. Nur aus dem Umgreifenden von innen heraus,
in der Seele des Geschehens erfolgt wahres Wissen und Aneignen.
Alles Anschauen aus dem Umgreifenden ist durch die Stellungnahme im Grunde
zugleich gegenwärtiges Wollen. Aus dem Ganzen der Erinnerung erwächst das Be-
wusstsein der eigenen Situation und Zukunft, wie umgekehrt diese ihr Licht in das Ver-
gangene werfen, das darum in der Folge immer noch neue und andere Verstellbarkei-
ten zu Tage treten lassen kann.
Dem erfüllten geschichtlichen Bewusstsein wird im Umgreifenden am Ende alles
zur Gegenwart, aber ewige Gegenwart in dem zeitlichen Augenblick. Das »quer zur
Zeit« - die Geschichtlichkeit als Gegenwart des Ewigen in jeder Zeit - ist in der Gegen-
wart des Geschehens und Tuns in Wahrheit nicht anders zu gewinnen als quer zur ge-
samten Geschichte.
2. Beurteilung der Realität: Die Welt erscheint so grauenvoll, dass zu leben fast un-
möglich wird (Gnostiker glaubten, ein böser Weltschöpfer, ein gefallener Engel habe
sie ins Dasein gerufen). Aber die Welt zeigt auch die hohen Vollendungen, die sicht-
bare Herrlichkeit (im Schöpfungsbericht der Genesis heisst es nach jedem Schöpfungs-
tag: Und Gott sah, dass es gut war;206 und zuletzt nach Abschluss der Schöpfung noch
einmal: Und Gott sah, dass alles, was er gemacht hatte, sehr gut sei).207 Die Welt gibt
 
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