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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0284
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Grundsätze des Philosophierens

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Welchen Weg der Mensch geht und gehen soll, sagt niemand in Wahrheit vorher.
Der Weg wird in der Wirklichkeit gegangen, nicht in Gedanken erdacht. Aber er wird
gegangen im Raum des Gedankens, der Wege als Möglichkeiten zeigt und Ziele ent-
wirft. Der wirklich gegangene Weg wird durch den Gedanken erhellt, aber nicht ein-
deutig gewiesen. Visierungen in den grenzenlosen Raum der Zukunft sind unsere Le-
bensluft, weil wir der Möglichkeiten im weitesten Umfang inne sein wollen, um zur
eigentlichen Entscheidung unseres Tuns zu kommen. Die Grundsätze, die bei solchen
Visierungen massgebend sind, sollen in diesem Kapitel erörtert werden.
b. Philosophie, Wissenschaft, Politik
Mit dem Bewusstsein von der Verwandlung der menschlichen Zustände, die unauf-
haltsam bis in die Grundlagen allen Daseins gehen, und von der Aufgabe der Mensch-
heit auf dem zur Einheit werdenden Erdball ist auch das politische Denken von einem
neuen Sinn erfüllt. Im Vergleich zu dem vorhergehenden Denken seit den Griechen
sehen wir dieses Neue langsam seit mehreren Jahrhunderten, mit Wucht im 18. Jahr-
hundert, entscheidend erst im letzten Jahrhundert zur Geltung kommen. War vorher
im politischen Denken (Thukydides, Plato, Aristoteles, Polybios, Macchiavelli) eine
Deutung der immer gleichbleibenden oder in Kreisen nach Regeln wiederkehrenden
Zustände gemeint, so werden jetzt Zukunftsmöglichkeiten nie da gewesener Art er-
blickt. Visionen dessen, was aus dem Menschen und seiner Welt werden kann, ma-
chen eine unerhörte Verantwortung der Menschen dieses Zeitalters für das Ganze fühl-
bar, das einmalig und unwiderruflich im Gang der Dinge entschieden wird. Während
früher eine jeweils abschliessende Deutung vollzogen wurde, die zugleich philoso-
phisch und wissenschaftlich, Normgebung und Realitätserkenntnis war, wird jetzt das
Ganze offen. Während früher ein einzelner Mensch das Ganze in seinem Denken um-
fasste, wird jetzt ein Strom wissenschaftlicher Forschungen in Statistik, Volkswirt-
schaftslehre, Sociologie in Bewegung gesetzt, der mit einer nie da gewesenen Intensi-
tät ein unübersehbares Wissen von dem Gegenstände bringt, der sich selber zugleich
reissend schnell verändert. So wird aus dem Bewusstsein des Verhängnisses in einem
neuen Horizont aus den gegenwärtig offenbar gewordenen Realitäten das Ziel gesucht
und damit eine neue Wissenschaft der Politik gefordert. Es wird unterschieden, was
philosophisch im Ganzen zu erhellen, was wissenschaftlich im Besonderen zu erken-
nen, und was das jeweils concrete Handeln im politischen Zusammenhang ist. Das po-
litische Denken gliedert sich in die Philosophie des Politischen, in die Wissenschaft
von der menschlichen Gemeinschaft und in die Politik im engeren Sinn:
Die Philosophie des Politischen zeigt im weitesten Raum den Sinn der Ziele, die Mass-
stäbe, die Ursprünge. Sie will hinauskommen über einseitige Positionen, die im Wirbel
drängender Ereignisse leidenschaftlich blind ergriffen werden. Sie möchte das Bewusst-
sein der umfassenden Horizonte gewinnen vor allen konkreten Programmen, vor dem
 
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