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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0288
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Grundsätze des Philosophierens 285
auch dann immer fragwürdig ist das geschehen. Plato und Dionysius von Syrakus begeg-
neten sich nur [,] um den Abstoss von Philosophie und Realität für immer der historischen
Erinnerung vor Augen zu halten.211 Occam ging zu Ludwig dem Bayern3, um abschrek-
kend zu zeigen, dass Philosophie als Propaganda- und Argumentationsmittel benutzt wer-
den kann.212 Locke und die englische Revolution von 1688 sind vielleicht das überzeu-
gendste Beispiel, wie einmal die politische Realität philosophisch gerechtfertigt und
beflügelt werden kann, dafür jedoch blieb es eine geistig beschränkte Philosophie, die ne-
ben die grossen Philosophen der Geschichte nicht als ebenbürtig treten dürfte.213 Umge-
kehrt ist aus der praktischen Politik ein Denken erwachsen, das philosophisch geworden
ist, ohne dass ihre Träger im Ganzen eine Philosophie hervorgebracht hätten, so die
staatstheoretischen Erwägungen in der Kanzlei Friedrichs II., des Hohenstaufen,214 Mac-
chiavelli und Morus,215 die politischen Denker der englischen Revolutionszeit, der ame-
rikanischen Staats- und Verfassungsgründung, der französischen Revolution.
Die Grundhaltung des Philosophierens muss sich bewähren im Auffassen aller, so
auch der politischen Realitäten und in der Klärung der ursprünglichen Antriebe und
ihrer Wahrheit. Aber sie bewährt sich nicht unmittelbar durch Vorschriften und An-
weisungen, durch Programme und Recepte, durch Ratschläge. Sie bewährt sich in der
Verwandlung des Menschen durch sein Philosophieren. Diese Verwandlung prägt
dann alle weiteren Verwirklichungen.
Die neue Wissenschaft der Politik ist zwar neu durch die Situation der Weltge-
schichte, die sie fordert, ist neu durch den Umfang des Gewussten und grundsätzlich
wissbar Gewordenen13, ist neu durch die Spannung im Unterschiedenen und die darin
geschehene Aufgebrochenheit. Aber sie gründet sich doch auf eine ehrwürdige Über-
lieferung von Jahrtausenden. Es ist unverlierbar und wesentlich, was nach den Ansät-
zen bei Ägyptern und Babyloniern seit der Achsenzeit von Griechen, Israeliten, Rö-
mern, von den alten Chinesen und Indern über die menschlichen Dinge und ihre
Ordnung gedacht worden ist. Darüber belehren einerseits - in der realen Linie - Rechts-
geschichte, Verfassungsgeschichte, Geschichte von Wirtschaft und Gesellschaft (über
das praktisch sich verwirklichende Denken), andrerseits - in der philosophischen Li-
nie - die Geschichte der Philosophie und der Wissenschaft, welche jene Realitäten in
ihren Zielen erhellten oder sie als Realitäten gegenständlich erforschten, Staat, Gesell-
schaft und Weltordnung zu ihrem Thema machten.
Wir vergegenwärtigen im Folgenden Grundpositionen, von denen aus diese ganze
Welt gemeinschaftlicher Zustände und Bewegungen angesehen werden kann. Wir
möchten den philosophischen Raum gegenwärtigen politischen Wollens, nicht aber
schon dieses selber gewinnen.

a statt dem Bayern im Ms. und in der Abschrift Gertrud Jaspers der Bayer
b Gewordenen nach der Abschrift Gertrud Jaspers statt gewordenen im Ms.
 
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