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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0301
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298

Grundsätze des Philosophierens

rühre. Dieses mehr wird vorgreifend in geschichtsphilosophischen Konstruktionen ver-
meintlich erkannt. Es ist das, was zwar grenzenlos heller, aber nie eigentlich hell wird
in den realen Beziehungen des Sinns, den Menschen ergreifen, den sie meinen und voll-
ziehen. Dieses mehr ist keinesfalls das Leben eines Totalleibes mit Geborenwerden, Rei-
fen, Altern und Sterben von Völkern und Kulturen. Das kann nur ein Vergleich sein,
der jeweils unter Beurteilung einer besonderen Erscheinung als eines Höhepunktes
fälschlich auf das Gesamtgeschehen angewendet wird. Jederzeit ist das menschliche
Leben ganz und ist unvollendet[,] voller Möglichkeiten, ist Verfall und Aufschwung zu-
gleich, ist das gerade jetzt wirkliche mit seiner eigentümlichen Höhe, ist mit Rankes
Wort jederzeit »unmittelbar zu Gott«.222 Die Gliederung der Geschichte in Lebenspro-
cesse des Wachsens und Sterbens, der Vollendungen und des Verfalls, sofern damit
mehr gemeint wird als die Ordnung je besonderer geistiger Gebiete (so etwa politischer
Formen, wissenschaftlicher und technischer Fähigkeiten, dichterischen und künstle-
rischen Schaffens, philosophischer Werke) durch einen Vergleich. Wo tiefster Verfall
ist, ist im andern Sinn einmalige Höhe. Unbefangen stehen wir der Geschichte nur
dann gegenüber, wenn wir das unerhört Lebendige durch alle Zeiten wahrnehmen.
Der grundsätzliche Fehler der Organologen ist, dass sie das Gegenständliche eines
blossen Bildes verwechseln mit dem Umgreifenden. Menschliche Gemeinschaft und
menschliche Geschichte ist nirgends ein geschlossener Körper, kennt kein Altern und
Sterben des Ganzen. Aber in ihr ist das Unbewusste eines Geschehens. Es entwickelt und
bildet sich heraus, was niemand geplant und gewollt hat. Aber es entwickelt sich nicht
wie das organische Leben, sondern in der hell werdenden Geistigkeit als etwas, das nicht
wie das Organische weniger als Geist ist, sondern das mehr als Geist sein muss.
Totalbilder aus dem Vergleich mit der Freiheit: Der Vergleich mit dem persönlichen
Leben des einzelnen Menschen sieht in der Geschichte ein Sichaufschwingen, Sich-
selbstüberwinden und Abgleiten des Menschen im grossen. Wir kennen dieses Sich-
bemühen, diese Erfahrung des Voranschreitens im Gelingen, im Überwinden der Wi-
derstände, im Sichzurückreissen aus dem Verfall, allein im persönlichen Tun des
Einzelnen. Aber der Einzelne vermag es nur in der Gemeinschaft mit anderen, im gei-
stigen Kampf, in der Teilnahme am schon Hervorgebrachten, im Fortführen und Ver-
wandeln des Entgegengebrachten, in dem geheimnisvollen Miteinander communica-
tiven Lebens. Dies geschieht ohne bewussten Plan des Ganzen faktisch in der
Gemeinschaft freien Lebens, in dem Zusammenhang geistiger Entwicklungen, in der
Verwirklichung politischer Zustände. Wie dies Miteinander3 vor sich geht, in dem das
geistige Tun des Einzelnen untrennbar von dem aller ist, das entzieht sich letzter An-
schauung auch da, wo ungewöhnliche Dokumente vorliegen. Als Gesamtanschauung
einer geistigen Welt in ihrer historischen Entwicklung wird es vor Augen gebracht

statt Miteinander im Ms. und in der Abschrift Gertrud Jaspers miteinander
 
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