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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0355
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352

Grundsätze des Philosophierens

Die Substanz des Staatslebens und der Zustand der öffentlichen Dinge ist in stän-
diger langsamer oder schneller Verwandlung, und zwar erstens, weil die realen Da-
seinsgrundlagen, Technik, Arbeitsorganisation [,] Bevölkerungsmassen sich verändern,
zweitens, weil die Einrichtungen stets eine Tendenz zur Verselbständigung haben.
Aus dem zweiten Grunde werden Einrichtungen in ihrer Wirkung zweideutig. Die
Bürokratie erzeugt das hohe Beamtenethos und zugleich den toten Leerlauf. Die »Ge-
waltenteilung« bedeutet Sicherung gegen menschliche Willkür und zugleich Lähmung
durch Trennung des nur in Verbindung Lebendigen. Die Gesetze ordnen und ermögli-
chen das Leben und zugleich fixieren sie und töten. Immer ist das, woraus und wofür
die Einrichtungen getroffen werden [,] mehr als diese Einrichtungen selber. Die Sub-
stanz des Staatslebens umgreift alle ihre besonderen Erscheinungen, der Geist des Ge-
setzgebers ist umfassender als das jeweils ausgesprochene Gesetz. Gesetze und Einrich-
tungen bleiben in ihrer Objektivität immer dasselbe, sagen dasselbe, während das
Leben Verwandlung fordert aus der gleichen Tiefe, aus der erstorbene Gesetze und Ein-
richtungen einst entsprungen sind. Daher gilt beides: Die Maschinerie, absolut gesetzt,
tötet das Staatsleben, wie die Verknöcherung den Leib.255 Die Maschinerie, vernachläs-
sigt, funktioniert nicht mehr und lässt den Staat zerfallen, wie Knochenerweichung
den Leib. Die Staatseinrichtungen sind als Maschinerien unerlässlich und daher zu be-
jahen, in ihrer absoluten Fixierung sind sie tötlich und daher zu verneinen.
Die Maschinerie läuft nicht an sich, sondern nur durch die Seele dessen, was nicht
Maschine ist. Aus der Seele der Idee wird die Maschine in Gang gehalten, aber auch kri-
tisch geprüft, besonnen verwandelt, umgebaut, oder im einzelnen äusser Kraft gesetzt.
Wegen der Unerlässlichkeit von Ordnung und Struktur des Ganzen sind die Ein-
richtungen ernst zu nehmen und zuverlässig zu bewahren. Aber es ist nicht zu verant-
worten, sie gedankenlos durchzusetzen. Die Einrichtungen lösen sich gleichsam los
vom Menschen. Zwar sind sie nur da, wenn sie von Menschen vollzogen werden, aber
der einzelne Mensch kann ihnen automatisch folgen oder sich ihnen wie einem Frem-
den gegenüber finden, das er nicht versteht und dem er nur gehorchen muss.
Wegen der Grenze aller Maschinerie bleibt die Notwendigkeit, sie irgendwann zu
durchbrechen. Aber es ist verantwortungslos, Gesetze und Formen leichthin zu durch-
brechen, sie aus Motiven der Bequemlichkeit und Willkür gleichgiltig beiseite zu setzen.
Das Unheil aller Einrichtungen ist, dass die Mittel selber zum Ziel werden. Das wer-
den sie schon durch die Tendenz zum Automatismus, vor allem aber, weil sich beson-
dere Daseinsinteressen mit den Einrichtungen unsachgemäss verbinden. Das hat fol-
genden Grund. Da die Einrichtungen von Menschen getragen werden, die nicht nur
für sie[,] sondern auch von ihnen leben, so liegt in ihnen die Tendenz, sich als solche
zu erhalten. Sie sind Sache eines besonderen Interesses neben anderen Interessen ge-
worden. Es gibt keine bestimmte Einrichtung, die nur das allgemeine Interesse verfol-
gen, über allen Interessen stehen könnte. Auch jede Bürokratie z.B. wird ein besonde-
 
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