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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0411
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Grundsätze des Philosophierens

so wird zufällig und dann Gewohnheit, was nie einen eigentlichen Grund aus sich
hatte. Oder man wird gewaltsam im Sprechen, behauptet einfach, will aufzwingen.
Oder man wiederholt, was man einmal ursprünglich und wahr gedacht hat, in unge-
mässer Situation, in der es unwahr wird. Wir leben in einer Verwahrlosung der mensch-
lichen Communication.
Dagegen erblickt man historisch gegebene Stilformen des Umgangs und des Ge-
sprächs. Bestimmte Gesellschaftsformen haben ihre Sprechweise, ihr Sagen und
Schweigen, ihre geistigen Kampfmethoden unter Regeln gestellt, die durch Ordnung
einen hohen Rang der Bildung und Wahrheit ermöglichten.
Jeder, der noch eine Spur seelischer Empfindlichkeit hat, macht die Erfahrung, dass
er nicht mit jedermann auf gleiche Weise sprechen kann. Unwillkürlich verwandelt er
seine Haltung und Sprechweise mit den Menschen, an die er sich wendet. Man kann
nicht jedem alles sein. Es gibt eine Vielfachheit der Aspekte des eigenen Wesens, die
man erst bemerkt dadurch, dass sie verschiedenen Menschen gegenüber als verschie-
dene sich zeigen. Dadurch wird man der Relativität eines jeden dieser Aspekte sich be-
wusst.
Daraus ergibt sich das Schwebende in der Realität des einzelnen Menschen. Was
der Mensch wirklich ist, ist garnicht so klar vor Augen, wie es im Umgang als selbstver-
ständlich gilt. Was auf einer Ebene sinnvoll ist und einen Augenblick entsprechenden
Menschen gegenüber wirklich wird - z.B. eine Bitterkeit gegen das treulose oder recht-
lose Verhalten, das einem in der Welt widerfahren ist -[,] ist auf der Ebene eigentlichen
Selbstseins garnicht da und scheint anderen, solchem Aspekt nicht entsprechenden
Menschen gegenüber wie verschwunden. Daher kann, was dem einen Menschen ge-
genüber wie ein Wesensaspekt aussieht (sei es aus gerechtfertigtem Widerhall auf das
Verhalten einer in der Welt herrschenden Macht mir gegenüber, sei es aus subjektiven,
ungerechtfertigten Complexen), dem anderen gegenüber nicht nur unsichtbar, son-
dern schlechthin nicht da sein. Was sich von mir anderen Menschen zeigt, gehört
auch zu diesen Menschen; und wie Menschen sich mir zeigen, gehört auch zu mir. Wie
Menschen mir erscheinen, was ich von Menschenwirklichkeit weiss, liegt daher ent-
scheidend an meinem eigenen Wesen: nämlich welche Seiten sie von sich mir zu zei-
gen unwillkürlich geneigt sind.
Alle diese Relativitäten der Aspekte wollen überwunden und durchbrochen wer-
den in der echten Communication. Nur die Communication von Existenz zu Existenz
ist bedingungslos. Sie schmilzt alle Relativität ein, indem sie sie zugleich verwirklicht.
Solche Communication setzt Gegenseitigkeit voraus. Es gibt, bei Neigung zu jederzei-
tiger Form, doch kein verbotenes Sichzunahetreten, keine Reserve, keine verschwiege-
nen Gedanken, keine Diplomatie des Umgangs, kein Stillwerden und kein schweigen-
des Dulden. Diese Communication ist nicht absichtlich zu wollen, sondern sie
erwächst aus einem Wesensentschluss oder bleibt bei dessen Mangel aus. Nur vorzu-
 
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