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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0443
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Grundsätze des Philosophierens

gen sich gezeigt hat. Diese Abstraktion gründet sich nicht auf den entwickelnden Ge-
danken, sondern auf das Wort, das Gott spricht, auf Gott selbst, der erfahren wurde im
Wort, das der Prophet als Gottes Wort mitteilte. Die Macht der Wirklichkeit Gottes im
Bewusstsein dieser prophetischen Existenz, nicht die Kraft eines Gedankens brachte
diesen Monotheismus hervor. Daher ist das Wunderbare, dass dem gedanklichen In-
halt nach der griechische und der alttestamentliche Monotheismus zusammenfallen,
in der Gegenwärtigkeit Gottes aber radikal unterschieden sind. Es ist der Unterschied
von Philosophie und Religion. Es ist in der Folge der Unterschied von Gottheit und
Gott (deitas und deus),319 - von gedachter Transcendenz und lebendigem Gott; das Eine
der Philosophie ist nicht der Eine des alten Testaments.
Wenn aber philosophische Klarheit herrscht, dann ist die Frage, ob den Propheten
ihre für uns heute noch hinreissende, unvergleichliche Glaubensgewissheit in dieser
Form nur möglich war, weil sie noch philosophisch unbefangen vor allem Philoso-
phieren gedanklich naiv lebten, und daher nicht merkten, dass in dem unmittelbar
von Gott für alle gesprochenen »Wort« noch ein Rest der Leibhaftigkeit der Realität
blieb, die sie doch im Grundsatz bekämpften.
Der griechische und der alttestamentliche Monotheismus haben gemeinsam den
abendländischen Gottesgedanken geführt. Sie haben sich gegenseitig interpretiert.
Das war möglich, weil der Glaube der Propheten eine Abstraktion vollzogen hatte, die
der philosophischen Abstraktion analog ist, aber sie an Gewalt übertrifft, weil sie aus
der unmittelbaren Leidenschaft der Gotteserfahrung kommt, während sie an gedank-
licher Klarheit ihr nachsteht, daher auch in den folgenden religiösen Bildungen stän-
dig schon im alten Testament wieder verloren geht.
bb. Opfer: Der Opfergedanke scheint ein ursprüngliches Element aller Religion. Es
werden vor der Gottheit für sie Sachgüter, Tiere, Menschen vernichtet. Vereinzelt ha-
ben Menschen ihr eigenes Leben nicht nur gewagt, sondern geopfert. Unter den Göt-
tern wurden nicht selten auch solche vorgestellt, die sich selber opfern, sich selbst für
sie selbst, und Wiedererstehen.
Was in dem Opfergedanken ursprünglich liegt, ist nicht bis in den Grund zu erhel-
len. Es ist als Tatbestand eines der grossen Urphaenomene des Menschseins und ein
am Ende unauflösbares Rätsel. Opferwille bedeutet Verzicht auf Eigenwillen:
»In unsers Busens Reine wogt ein Streben,
Sich einem Hohem, Reinem, Unbekannten
Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben ...«32°
Aber im Opferdrang kommt Entsetzliches ans Licht: »Wunderbar und ahnungsvoll geht
durch die schöne Welt ein schrecklicher Zug, dass alles, was geweiht war, sterben musste...
Übereilter [-] und abergläubischerweise werden dergleichen Opfer den Göttern verspro-
chen; und so kommen die, welche man schonen möchte, ja sogar die nächsten, die ei-
genen Kinder, in den Fall, als Sühneopfer eines solchen Wahnsinns zu bluten.«321
 
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