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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0447
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Grundsätze des Philosophierens

immer wieder, nicht allgemein, sondern je geschichtlich »offenbarendes«3 Heil. Dass
der Mensch in der Gnade durch Transcendenz sich geschenkt wird - warum soll das
nicht auch ohne Christus geschehen? Es scheint in aller Welt möglich und war wirk-
lich in Ostasien und Indien (ohne die Dogmatik der Offenbarung). Überall wird der
Mensch sich geschenkt und kann es glaubend wissen (Plato’s Sokrates). Aber die nä-
here gegenständliche Auffassung und glaubende Interpretation ist mannigfaltig.
An den vier Beispielen des Gottesgedankens, des Opfers, des Gebets und der Offen-
barung wurde versucht, den Zusammenhang zwischen Philosophie und Religion an-
schaulich zu machen. Sieht man den Zusammenhang als Zeitfolge, so ist die Frage:
Handelt es sich um eine Verdünnung der Religion, um eine Entsubstanzierung? - dann
nennt man den Vorgang Saecularisierung. Oder handelt es sich um eine Reinigung,
um eine ursprüngliche Verwesentlichung, um Vertiefung und gerade um Substanzie-
rung? Es scheint, dass es beide Processe gibt. Der Gefahr einer Entleerung durch Auf-
klärung steht die grosse Chance des Wahrwerdens des Menschen gegenüber. Die Be-
wegungen Religion - Philosophie sind nicht so eindeutig und sind nicht derart
übersehbar, dass man sie im Ganzen beurteilen könnte. Wir stehen darin. Unser Tun
können wir nicht aus einer Übersicht über das Ganze bestimmen, sondern nur aus
dem, was uns je gegenwärtig aus dem Ursprung als wahr aufgeht.
c. Mythus und Wissen. - Mythus ist in der Religion die Weise ihres Wissens. Keine
Religion ohne Mythus. Mythen sind Bilder, Gestalten, Geschichten von Göttern und
Gott, von Mächten und Dämonen, Engeln, Geistern, in denen wie fraglos selbstver-
ständlich leibhaftige Realität ergriffen wird.
Mythische Wissensform steht am Anfang der Geschichte. Aus dem Mythus und ge-
gen den Mythus haben sich historisch die Philosophie und die wissenschaftliche For-
schung entwickelt. Den anfänglichen Mythus untersuchen heisst das menschliche Be-
wusstsein in seiner Gesamtverfassung, wie es am Anfang der historischen Entwicklung
war, zu vergegenwärtigen; es ist uns fremd und ungemein schwer zugänglich. Die my-
thische Denkungsart war das allumfassende, in sich noch ungeschiedene Seinsbe-
wusstsein. Da aber der Mythus fortbesteht, auch wenn Philosophie und Wissenschaft
sich entfalten, so ist eine zweite Frage, was dann noch der Mythus ist und sein kann;
denn er muss sich gegenüber der anfänglichen allumfassenden Bewusstseinsweise des
Menschen verwandelt haben. Es ist die Frage, ob der Mythus im Ganzen überwunden
werden muss oder ob in ihm etwas ist, was, neu bewusst geworden und verwandelt,
gegenüber Philosophie und Wissenschaft seinen eigenen Ursprung und eigenes Be-
reich bewahrt.

a »offenbarendes« nach der Abschrift Schott statt sich »offenbarendes« im Ms. sowie in den Abschriften
Gertrud Jaspers undA. F.
 
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