Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0449
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
446

Grundsätze des Philosophierens

muss der Mythus mit Wissenschaft überall dort in Konflikt kommen, wo er über Dinge
in der Welt oder Erforschbarkeiten etwas aussagt. Hier entsteht ein Kampf, der bis heute
andauert, gegen den Mythus, für den Mythus, um die rechte Auffassung und Deutung
des Mythus, um die Klarheit des bleibend ursprünglichen mythischen Denkens.
aa. Unabdingbarkeit der wissenschaftlichen Forderung: Nur der moderne Mensch
kann ganz wissen - und weiss es doch auch sehr selten -, was Wissenschaft ist und da-
mit, was die Würde des Menschen im Sichbeugen unter wissenschaftliche Unumgäng-
lichkeiten bedeutet. Der Mensch erfährt als gottgewollt, dass er den Forderungen zwin-
gender Erkenntnis folgen solle. Im Gehorsam unter die selbsterkannte Wahrheit tilgt
er seinen träumenden Eigenwillen und hat er zugleich seine Würde. Die Forderung
lautet: was wissenschaftlich erforschbar ist, soll erforscht werden; was wissenschaft-
lich zwingend ist, dem darf sich das Bewusstsein unter keiner Bedingung entziehen;
wo ein Conflikt zwischen mythischem Denken oder Glaubensaussagen und zwingen-
der wissenschaftlicher Einsicht besteht, hat die Wissenschaft den Vorrang.
Diese Forderung ist aber keineswegs für jeden Fall eindeutig und endgültig. Erstens
ist die Wissenschaft nicht als fester Bestand reiner Wissenschaftlichkeit da, vielmehr
ist, was in Büchern und Menschen als Wissenschaft auftritt, durchweg gemischt mit
wissenschaftsfremdem Meinen und Behaupten. Wissenschaft ist nur im ständigen
Mühen um sie in ihrer Reinheit möglich. Zweitens ist in jedem Fall die besondere Art
der wissenschaftlichen Einsicht, ihrer Methode, die Weise und der Grad der Gewiss-
heit, zu prüfen. Was zwingend ist, liegt nicht auf der Hand. Es ist vielmehr Sache im-
mer neuer Untersuchung, die reine Unumgänglichkeit des Zwingenden zu finden.
bb. Die Verwandlung des Mythus mit der Verwandlung von Wissenschaft und Phi-
losophie: Im Anfang war der Mythus die allumfassende Form des menschlichen Wis-
sens überhaupt. In ihm war in eins verschlungen, darum unklar, was später sich
trennte. Der entscheidende Schritt geschah mit der Verselbständigung des Wissens
von empirischer Realität. Damit wurde alles, was im Mythus an Realitätsaussagen ent-
halten war, hinfällig. Entweder wurde es empirisch nachweisbare Realität und bestand
dann ohne Mythus aus anderem Recht, oder es war nicht nachweisbar und wurde dann
irreal, eine blosse Vorstellung.
Empirische Realität ist aber nur die Erscheinung des Seins für uns im Zeitdasein, sie
ist nicht und umfasst nicht die Wirklichkeit des Seins selbst, zu der wir keinen ande-
ren Zugang haben als durch die Freiheit unserer Existenz. Im Mythus spricht diese
Wirklichkeit zur Existenz, wie sie zu ihr auf andere Weise durch empirische Realität
sprechen kann, sofern diese existentiell verstanden wird. Was im anfänglichen My-
thus leibhaftige empirische Realität und transcendente Wirklichkeit in eins war, ist
nun getrennt. Sofern nur die Leibhaftigkeit des Realen auf unser Dasein wirkt, hat der
Mythus nun diese Kraft des leibhaftigen Zwanges verloren. Sofern der Mythus aber
Sprache der Wirklichkeit an Existenz ist, kann er diese Sprache nun umso reiner ver-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften