Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0452
License: Free access  - all rights reserved

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Grundsätze des Philosophierens

449

für den der gekreuzigte Christus als Opfertod Gottes absurd, und zur Aktivität gegen
den vernunfterhellten philosophischen Gottesglauben, für den solche Identificierung
Gottes mit einem Menschen (Jesus) ein Ärgernis ist. Diese Aufforderung zum sacrifi-
cium intellectus wird beim Modernen gemildert [,] aber auch gesteigert zu einer Reser-
vatio gegenüber wissenschaftlichen Unausweichlichkeiten. Die tiefe Wahrheit desje-
saias, verkehrt von Paulus, wird vollends missbraucht vom Modernen, um durch
Furcht vor einem vermeintlichen direkten Gotteswort Unhaltbarkeiten von Glaubens-
inhalten zu schützen.
Man sagt: der Glaube solle rein werden durch Entmythologisierung.330 Ein doppel-
ter Antrieb lenkt diese Forderung, erstens der Wissenschaft genügen zu wollen, zwei-
tens den specifischen Glaubensgehalt des Monotheismus, der ursprünglich bildlos,
antimagisch wie antimythisch zu sein scheint, ganz zu dem werden zu lassen, was er
eigentlich ist. Sofern aber diese Entmythologisierung die Mythen schlechthin verwirft
und keine Verwandlung zulässt, leistet sie zu viel für eine lebendige Religion; auf die-
sem Wege bleibt nur Philosophie. Sie leistet für die Philosophie aber zugleich zu we-
nig, sofern sie einen mythischen Rest - etwa das Heilsgeschehen in Christi Leben und
Sterben - als Glaubensinhalt bewahrt, vermeintlich, weil das kein Mythus sei.331 Eine
für den Glaubenden glückliche, für den Philosophierenden aber nicht mögliche In-
konsequenz lässt dieses mythische Minimum, als Mythus unerkannt, bestehen.
Man sagt: es sei eine Spannung zwischen mythologischem und wissenschaftlichem
Denken. Diese Spannung sei zu bewahren und auszuhalten, weder auszugleichen noch
zugunsten der einen Seite aufzuheben. Im Mythus liege ein »Realitätsgehalt«, der
durch historische Untersuchung nicht fassbar, weder zu beweisen noch zu widerlegen
sei. »Das wissenschaftliche Denken bewahrt uns davor, ihn massiv zu vergröbern, das
mythologische Denken bewahrt uns davor, ihn abstrakt zu verflüchtigen, in der leben-
digen Spannung beider Denkformen halten wir uns offen für das Geheimnis.«332 Aber
diese Forderung der Spannung täuscht darüber, dass es inbezug auf Realität nur ein
entweder-oder gibt. Es ist gar keine Spannung. Die Wirklichkeit der Transcendenz, in
mythischer Sprache wie in empirischer Realität vernehmbar, entzieht sich jeder Leib-
haftigkeit und Anschauung, in der man sie bewahren möchte. Jene Spannung ist ein
unklares Schwanken. Es wäre eine vergebliche Rückkehr in den vorwissenschaftlichen
und vorphilosophischen Bewusstseinszustand mythischer Denkungsart.
ff. Mythisches Denken ist nicht zu verwerfen [,] sondern in rechter Deutung anzu-
eignen: Wir leben in der Tat wohl nie ohne Mythen, wir können es garnicht. Aber wir
brauchen nicht mit mythischen Inhalten als Realitäten zu leben, wenn zur Sprache ge-
wordene Mythen, die ihrer Realität beraubt sind, unser Seinsbewusstsein bestimmen.
Daher ist die Forderung, Mythen und sogar noch abergläubische Inhalte zu interpre-
tieren, sie aus Seinsobjektivitäten in Sprache zu verwandeln. Entscheidend ist die exi-
stentielle Interpretation, denn die Wahrheit und Wirklichkeit dieser Mythen gibt es
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften