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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0459
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456

Grundsätze des Philosophierens

Die Heiligkeit der Kirche genügt dem Bedürfnis nach Leibhaftigkeit und Gegenwär-
tigkeit der Transcendenz. Das corpus mysticum der Kirche ist die Gegenwart Gottes,
ist leibgewordener Gott.338 Durch Teilnahme an der Kirche wird die tiefe Befriedigung
der Teilnahme am Sein Gottes gewonnen. Wer sie kannte, ist unselig ohne sie. Extra
ecclesiam nulla salus.339 Ohne die übersinnlich begründete Heiligkeit der Kirche wäre
die religiöse Gemeinschaft ein menschlicher Verein, oder eine staatliche Einrichtung,
jedenfalls eine weltliche Funktion.
Aber jede Gemeinschaft ist zugleich weltlich, eine sociologische Realität, für den
Nichtglaubenden nur dieses. Sociologische Realitäten verwirklichen immer zugleich
auch rein weltliche Bedürfnisse der Menschen, der führenden und der geführten. Da-
her die Menschlichkeiten, Missstände und Missbräuche der Kirchen. Die Religion hat
durch die Kirche sociologische Wirkungen, die sociologischen Tatbestände aber prä-
gen, sich rückwendend, wiederum die Religion in ihrer bestimmten Ausgestaltung.
Daher das immer wiederkehrende Erschrecken vor der Unheiligkeit der heiligen Kir-
che und die Unterscheidung der sichtbaren und unsichtbaren Kirche, wobei die un-
sichtbare in der Tat keine Kirche mehr ist.340
Die Consequenz des Kirchengedankens scheint gerade wenn sie zum äussersten
treibt, brechen zu müssen. Rational ist für den Nichtglaubenden der Widerspruch un-
auflösbar zwischen dem Anspruch der Heiligkeit und der historisch in grösstem3
Maasse aufzeigbaren faktischen Unheiligkeit. Dieser Widerspruch ist schon begrün-
det in dem ersten, dass ein Mensch (Jesus) Gott (Christus) sein soll. Wer diesen Wider-
spruch zulässt, kann alle weiteren, die mit der Kirche als corpus mysticum Christi ver-
bunden sind, ertragen. Denn dann kann man sogar wagen, auch das Böse, das die
Kirche und das Vertreter der Kirche in ihren amtlichen Funktionen in einem Maasse
getan haben, das von einer weltlichen Institution wohl kaum übertroffen wird (weil
eben kirchliche und weltliche Institution faktisch beide gleicher Art, beide mensch-
lich sind), nur für die menschliche Seite der an sich heiligen Anstalt zu halten. Denn
diese Heiligkeit selber gilt als unmittelbar von Gott. Gott, der auf Erden wandelte, soll
die Kirche eingesetzt haben. Dieser Anspruch aber kommt doch nur von einem be-
stimmten Dasein in der Welt. Während der einzige Weg zur Einheit der Welt der Men-
schen die unbedingte und grenzenlose Communikation aus der Verschiedenheit der
Ursprünge, das Suchen der Einheit durch das geschichtliche Sichhellwerden im Mit-
einander aller ist, wird hier der Weg des Kampfes beschritten, der die Communikation
zum Fremden abbricht. Er kann nur vernichten, was dem Kämpfenden zu assimilie-
ren nicht gelingt. Unter Berufung auf Gott wird eine im Abendlande erwachsene
menschliche Partikularität für das absolute Ganze erklärt.

grösstem im Ms. Vdg. für unerhörtem
 
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