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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0479
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476

Grundsätze des Philosophierens

Christentum nimmt in sich auf die höchsten Ansprüche an Humanität, aber um
auch diese zu durchbrechen und wiederum in ihrer Beschränkung zu sehen.
Christentum ist die Quelle unerhörtester Aktivität, eines Willens zur Weltgestal-
tung im Dienste Gottes.
Christentum ist in seinen ethischen Ansprüchen unbedingt und kompromisslos.
Es schliesst ein auch die Forderung zu einer grenzenlosen Wahrhaftigkeit, die sich am
Ende auf sich selber zurückwendet und in Frage stellt.
Es ist nun allerdings nicht wahr, dass alles dies an Christusglauben gebunden sei;
wohl aber wahr, dass es für uns Abendländer in der Gesamtheit der biblischen und
christlichen Überlieferung sich gründe und für uns alle giltig sei.
Das Christentum gründet sich ja nicht allein, vielleicht nicht einmal entscheidend
im Christusglauben, sondern auf die gesamte Bibel als heiliges Buch der Offenbarung
Gottes, und auf Überlieferung, welche die Antike in sich schliesst. Daher umfasst das
faktische, nicht dogmatisch oder institutionell jeweils begrenzte Christentum die bi-
blische Religion im Ganzen, mit allen ihren Polaritäten und Stufen, ihren Widersprü-
chen und Spannungen, worin Christus nur ein Moment unter anderen ist. Es ist die
aus dieser Dialektik des sich innerlich Entgegengesetzten entspringende geistige Be-
wegung der Seele, die nun seit zweiJahrtausenden andauert.
Dieses umfassende Christentum nun entspricht in der Breite seiner empirischen
Realität keineswegs jenen allgemein formulierten Grundcharakteren. Verengungen,
Ausartungen, Verkehrungen treten häufiger in die Erscheinung als jene hohen Ansprü-
che und die Richtung auf deren Verwirklichung. Was das Christentum in dieser Mas-
senerscheinung sei, ist zum Teil aus den Angriffen zu sehen, denen es ausgesetzt ist.
e. Angriffe gegen das Christentum. - Angriffe gegen das Christentum gehen durch
einzelne Positionen hindurch gegen ein Ganzes, gegen eine geistige Welt, gegen et-
was, das zu einem Grundcharakter abendländischer Kultur geworden ist. Einwände
gegen den Christusglauben sind nur ein Moment neben anderen in diesem umfassen-
den Angriff. Solche Einwände erfolgen nur da, wo Menschen dem Christentum im
Ganzen gegenüberstehen oder gegenüberzustehen glauben. Von aussen sind solche
Einwände ausgesprochen von Asiaten, von innen durch Menschen, die innerhalb des
Abendlandes die Macht des Christentums überwinden, als Fremdkörper abstossen
oder in seine eigentliche Wahrheit verwandeln wollten. Wir möchten einige typische
Einwände in ihrer rücksichtslosesten Gestalt fassen, zugleich aber die Grenze ihres
Rechtes erörtern durch Einwände gegen diese Einwände.
aa. Lehre und Leben der Christen: Durch die Jahrhunderte geht der Vorwurf: Das
Leben der Christen steht in Gegensatz zu ihrer Lehre; sie tun nicht, was sie lehren.
Keine Religion ist derart gewaltsam geworden, obgleich sie die Bergpredigt als ihre
Ethik bekennt. Ketzerverbrennungen, Inquisition, Kreuzzüge, Glaubenskriege der
Konfessionen, Welteroberung und Völkerausrottung, alles das ist im Namen des Chri-
 
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