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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0480
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Grundsätze des Philosophierens

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stentums geschehen. Auch unter sich sind die Christen ganz anders als ihre Lehre. Sie
handeln wie alle Menschen, eher noch gehässiger, gespaltener, fanatischer als Nicht-
christen (der Islam als ein Nebenzweig, der der biblischen Religion entwachsen ist, ge-
hört im weitesten Sinne zu dieser christlichen Welt). Das moderne abendländische Le-
ben, aus der Nähe gesehen (Weltkriege, Völkerunterdrückungen, wachsende Menge
der Ehescheidungen usw.) [,] scheint ein einziger Gegeneinwand gegen das Christen-
tum. Die Spaltung des Christentums in zahllose Confessionen, deren meiste sich sel-
ber für die einzige echte Wahrheit, die anderen für Irrwege halten, spricht gegen das
Christentum.
Gegen alle solche Einwände gilt: Was gegena Christen spricht, spricht nicht gegen
die Wahrheit des Christentums. Man versucht zu denken: Es könnte sein, dass diese
Wahrheit zunächst alles Böse erst recht hervortreibt. Ein Process von Jahrtausenden
könnte notwendig sein zur Verwirklichung solcher Wahrheit im Ganzen. Nur die volle
Entfaltung des Bösen, sein Austoben werde zur Überwindung führen. Das Christen-
tum sei die grosse Wahrheit, die allein durch einen Steigerungs- und Säuberungspro-
cess den Menschen verwandele. Was bei Einzelnen durch alle Zeiten möglich und
schon wirklich war, wird im Ganzen nur langsam erreicht. Solche Gedanken scheinen
uns allerdings als phantastische Beruhigungen. Sie sind abstrakt gedacht. Für ihre
Richtigkeit ist auch nur der Ansatz eines Beweises unmöglich.
Überzeugende Betrachtung wird im Bereiche des Sichtbaren und des geistig unmit-
telbar sachlich Zusammenhängenden bleiben. Da gilt: Einen Glauben darf man an sei-
nen Früchten erkennen, d.h. das Christentum an seinen tatsächlichen historischen
Wirkungen. Unter dieser Frage ist das Christentum unerhörtb zweideutig.
Wohl geht durch seine Geschichte der grosse Zug der christlichen Demut, des Ver-
zichtens, des Leidenkönnens, der christlichen Liebestätigkeit. Das christliche Mönch-
tum und die christliche Kunst und Dichtung sind Zeugen einer ausserordentlichen Spi-
ritualität.c Lange Jahrhunderte war das Christentum alleiniger Träger derd Kultur. Nur
ihm ist die Überlieferung der antiken Welt in die folgenden Jahrhunderte zu verdanken.
Aber mit all dem geht ständig eine Unwahrhaftigkeit einher.e Psychologische Ver-
kehrungen der Erlebnisweisen, Ausleben des Machtwillens und perverser Instinkte,
sogar Erscheinungen wie der Hexenwahn gehören zum Christentum. Gedanklich müs-

a nach gegen im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. viele, keineswegs gegen alle
b unerhört im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu verwirrend
c nach Spiritualität, im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. Die Transcendenz hat in der Gestalt christ-
licher Bilder, Gedanken, Handlungen und Menschen eine unerhört reiche und tiefe Sprache ge-
wonnen.
d nach der im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. abendländischen
e nach einher, im Vorlesungs-Ms. 1945/4 6 hs. Einf. Die hohen, j a unmöglichen Ansprüche sind durch-
weg nicht zu verwirklichen.
 
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