Grundsätze des Philosophierens
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Wo die einzelne Seele sich wehrt gegen nicht mehr gewollte historische Wirkun-
gen aus dem christlichen Ursprung, will sie doch nicht rückgängig machen, was ihr
an Gehalten, Horizonten, Antrieben erwachsen ist. Wie aber ist das möglich? Die re-
ligiösen Glaubenswirklichkeiten dürfen nicht fallen. Die unlösbare Aufgabe muss in
neuer Gestalt bleiben, wenn die Seele nicht in geistige Bewegungslosigkeit versinken,
durch falsche Ruhe eindeutiger Wahrheit nicht ihre Möglichkeiten verlieren soll. Im
Blick auf die Geschichte wird der Philosophierende sich bewusst, dass er die Erhaltung
sogar dessen muss wünschen können, was er bekämpft, und dass er bekämpfen muss,
was er doch nicht entbehren kann. Er ist als einzelner Mensch nicht umfassend, nicht
alles, nicht vollendet, sondern er steht in der Welt und ihren Möglichkeiten. Er voll-
zieht eine nicht absehbare geistige Bewegung, diea ihm nur möglich istb in dem Ernste
der Verwirklichungen durch siec hindurch. Daher hören alle Einwände auf, sinnvoll
zu sein, die voraussetzten, eine endgiltig richtige Position, Realisierung, Einrichtung
sei aufzeigbar. Aber innerhalb der Möglichkeiten ist der Mensch als Einzelner nur wirk-
lich, wirkend und schaffend, wenn er Positionen einnimmt, im Kampfe sich entschei-
det, kämpfend hervortreibt, was ohne Kampf in der Verborgenheit schliefe.
bb. Das inhaltlich Unmögliche: Im Christentum kommen äusser demd Menschen,
der Gott ist (Christus) [,] Glaubensinhalte vor, die in ihren verstehbaren Aussagen in
irgendeinem Sinne unhaltbar scheinen. Und doch ist das Merkwürdige, dass im Un-
haltbaren etwas steckt, das nicht schlechthin als falsch abzutun ist. Einige Beispiele:
i. Unhaltbarkeiten in der ethischen Grundlage: Im Ethos der Jesusworte357 sind drei
sachlich von einander unabhängige Motive zu unterscheiden6:
Erstens der Anspruch unbedingter Reinheit: Gesetze lassen sich durch äussere
Handlungen befolgen. Aber die Wahrheit liegt in den Antrieben. Es kommt auf die in-
nersten Antriebe, die letzten, leisesten Gefühlsregungen an, auf den möglichen Keim
böser Taten. Diese sind sittlich entscheidend. Wollen kann ich ein bestimmtes Tun,
aber woraus ich will, das entscheidet über den Wert meines Wollens. Daher erhebt Je-
sus den Anspruch über alle Gesetzlichkeit hinaus an den Grund des Tuns. Die Gesetze
will er nicht auflösen durch Erklärung ihrer Ungiltigkeit, sondern erfüllen durch For-
a Bewegung, die im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu Bewegung, indem er sich auf das bezieht, was
er nicht selber ist. Die Bewegung ist
b ist im Vorlesungs-Ms. 1945/46gestr.
c sie im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu die sich abstossenden und im Abstoss verbundenen Po-
sitionen
d nach dem im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. erörterten Glauben an den
e nach unterscheiden im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. Bei Vergegenwärtigung dieser Ursprünge
der christlichen Ethik werden wir den ersten für uneingeschränkt wahr und giltig, den zweiten
für eingeschränkt wahr, den dritten für grundsätzlich unhaltbar erkennen
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Wo die einzelne Seele sich wehrt gegen nicht mehr gewollte historische Wirkun-
gen aus dem christlichen Ursprung, will sie doch nicht rückgängig machen, was ihr
an Gehalten, Horizonten, Antrieben erwachsen ist. Wie aber ist das möglich? Die re-
ligiösen Glaubenswirklichkeiten dürfen nicht fallen. Die unlösbare Aufgabe muss in
neuer Gestalt bleiben, wenn die Seele nicht in geistige Bewegungslosigkeit versinken,
durch falsche Ruhe eindeutiger Wahrheit nicht ihre Möglichkeiten verlieren soll. Im
Blick auf die Geschichte wird der Philosophierende sich bewusst, dass er die Erhaltung
sogar dessen muss wünschen können, was er bekämpft, und dass er bekämpfen muss,
was er doch nicht entbehren kann. Er ist als einzelner Mensch nicht umfassend, nicht
alles, nicht vollendet, sondern er steht in der Welt und ihren Möglichkeiten. Er voll-
zieht eine nicht absehbare geistige Bewegung, diea ihm nur möglich istb in dem Ernste
der Verwirklichungen durch siec hindurch. Daher hören alle Einwände auf, sinnvoll
zu sein, die voraussetzten, eine endgiltig richtige Position, Realisierung, Einrichtung
sei aufzeigbar. Aber innerhalb der Möglichkeiten ist der Mensch als Einzelner nur wirk-
lich, wirkend und schaffend, wenn er Positionen einnimmt, im Kampfe sich entschei-
det, kämpfend hervortreibt, was ohne Kampf in der Verborgenheit schliefe.
bb. Das inhaltlich Unmögliche: Im Christentum kommen äusser demd Menschen,
der Gott ist (Christus) [,] Glaubensinhalte vor, die in ihren verstehbaren Aussagen in
irgendeinem Sinne unhaltbar scheinen. Und doch ist das Merkwürdige, dass im Un-
haltbaren etwas steckt, das nicht schlechthin als falsch abzutun ist. Einige Beispiele:
i. Unhaltbarkeiten in der ethischen Grundlage: Im Ethos der Jesusworte357 sind drei
sachlich von einander unabhängige Motive zu unterscheiden6:
Erstens der Anspruch unbedingter Reinheit: Gesetze lassen sich durch äussere
Handlungen befolgen. Aber die Wahrheit liegt in den Antrieben. Es kommt auf die in-
nersten Antriebe, die letzten, leisesten Gefühlsregungen an, auf den möglichen Keim
böser Taten. Diese sind sittlich entscheidend. Wollen kann ich ein bestimmtes Tun,
aber woraus ich will, das entscheidet über den Wert meines Wollens. Daher erhebt Je-
sus den Anspruch über alle Gesetzlichkeit hinaus an den Grund des Tuns. Die Gesetze
will er nicht auflösen durch Erklärung ihrer Ungiltigkeit, sondern erfüllen durch For-
a Bewegung, die im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu Bewegung, indem er sich auf das bezieht, was
er nicht selber ist. Die Bewegung ist
b ist im Vorlesungs-Ms. 1945/46gestr.
c sie im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu die sich abstossenden und im Abstoss verbundenen Po-
sitionen
d nach dem im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. erörterten Glauben an den
e nach unterscheiden im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. Bei Vergegenwärtigung dieser Ursprünge
der christlichen Ethik werden wir den ersten für uneingeschränkt wahr und giltig, den zweiten
für eingeschränkt wahr, den dritten für grundsätzlich unhaltbar erkennen