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Grundsätze des Philosophierens
sich ihm gnädig durch Christus. Christi Opfertod ist die Heilstat Gottes für die Verlo-
renheit des Menschen. Gotteserkenntnis ist Erfahrung dieser Gnade.
In dieser Haltung zu Gott ist der Ursprung der Erfahrung des Sichgeschenktwer-
dens des Menschen von der Transcendenz in eine bestimmte Gestalt verengt. Denn al-
les Schuld- und Strafdenken bezieht sich auf innerweltliches Geschehen zwischen
Menschen. Auf Gott bezogen kann dieses Denken nur ein Gleichnis - neben anderen
Gleichnissen - für etwas sein, das übersinnlich und ewig ist. Strafe liegt metaphysisch
in der Handlung selbst, nicht in einer Folge, im Sein, das dieses tut, nicht in einem hin-
zukommenden Akt.a
Wer in der Welt vorwiegend in Richtertum und Strafe denkt, wem moralistisch ein
ständiges Beurteilen eigen ist, der neigt zur Übertragung dieser negativen Verhaltungs-
weisen auf Gott. Diese Neigung wird schwach, wo der Mensch ursprünglich liebt,
Recht tun will und demütig vor Gott sein Leben lebt. Dann duldet er und beurteilt
nicht den anderen, blickt auf das, was ist, und hilft, wenn er kann; dies aber nur als
Alltagsform des Daseins, aus dem er in das unergründliche Geheimnis blickt, das sich
in allen Antinomien der Welt, des Denkens, der Seele zeigt.
Die Gestalt Gottes als Richter und Christi Opfertod als Gnadenakt, in dem jedem
Glaubenden die Gnade geschenkt wird, muss daher fremd und unwahr anmuten,
wenn sie, statt eines Spiels an der Grenze zum Centrum des Glaubens wird. Dieser
Glaube bewirkt nicht nur den wahren Schrecken, die abgründige Vergewisserung des
Schuldigseins des Menschen als Menschen und das Vertrauen auf einen Grund der
Transcendenz, worin dies aufgehoben wird, sondern eine künstliche, nicht notwen-
dige Seelenunruhe. Die christliche Befangenheit im Schuld- und Strafgedanken - ver-
breitet als Furcht, im Feuer der Hölle brennen zu müssen und davor für alle Fälle sich
bewahren zu wollen - ist eine Herabwürdigung Gottes zu einem Richter.
Wie der Strafgedanke verdirbt auch der Lohngedanke schon manche Formulierun-
gen der Jesusworte. Er verführt zu Sicherung und Stolz und bringt in das Ethos des
Neuen Testaments mit seiner wunderbaren Tiefe eine Unreinheit.
Immer die Verheissung: Es wird euch im Himmel wohl belohnt werden;386 - oder:
dein Vater wird dir’s vergelten;387 - oder: mit welcherlei Maass ihr messet, wird euch
gemessen werden388 (also eine neue Form des verworfenen Aug um Auge, Zahn um
Zahn) ,389 Gott wird seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, Recht schaf-
fen in Kürze.390 Jesus droht: Wer sich zu mir bekennt vor den Menschen, zu dem will
ich mich bekennen vor meinem himmlischen Vater. Wer mich aber verleugnet vor den
a statt Strafe liegt metaphysisch in der Handlung selbst, nicht in einer Folge, im Sein, das dieses tut,
nicht in einem hinzukommenden Akt. im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. 11 Gott ist die Wirklich-
keit, die alles trägt, die einzige eine Wirklichkeit. Sie wird verschleiert durch Realisierung von
Gleichnissen, die nur als relative Aspekte im verschwindenden Übergang den Wert einer Sprache
haben. ||
Grundsätze des Philosophierens
sich ihm gnädig durch Christus. Christi Opfertod ist die Heilstat Gottes für die Verlo-
renheit des Menschen. Gotteserkenntnis ist Erfahrung dieser Gnade.
In dieser Haltung zu Gott ist der Ursprung der Erfahrung des Sichgeschenktwer-
dens des Menschen von der Transcendenz in eine bestimmte Gestalt verengt. Denn al-
les Schuld- und Strafdenken bezieht sich auf innerweltliches Geschehen zwischen
Menschen. Auf Gott bezogen kann dieses Denken nur ein Gleichnis - neben anderen
Gleichnissen - für etwas sein, das übersinnlich und ewig ist. Strafe liegt metaphysisch
in der Handlung selbst, nicht in einer Folge, im Sein, das dieses tut, nicht in einem hin-
zukommenden Akt.a
Wer in der Welt vorwiegend in Richtertum und Strafe denkt, wem moralistisch ein
ständiges Beurteilen eigen ist, der neigt zur Übertragung dieser negativen Verhaltungs-
weisen auf Gott. Diese Neigung wird schwach, wo der Mensch ursprünglich liebt,
Recht tun will und demütig vor Gott sein Leben lebt. Dann duldet er und beurteilt
nicht den anderen, blickt auf das, was ist, und hilft, wenn er kann; dies aber nur als
Alltagsform des Daseins, aus dem er in das unergründliche Geheimnis blickt, das sich
in allen Antinomien der Welt, des Denkens, der Seele zeigt.
Die Gestalt Gottes als Richter und Christi Opfertod als Gnadenakt, in dem jedem
Glaubenden die Gnade geschenkt wird, muss daher fremd und unwahr anmuten,
wenn sie, statt eines Spiels an der Grenze zum Centrum des Glaubens wird. Dieser
Glaube bewirkt nicht nur den wahren Schrecken, die abgründige Vergewisserung des
Schuldigseins des Menschen als Menschen und das Vertrauen auf einen Grund der
Transcendenz, worin dies aufgehoben wird, sondern eine künstliche, nicht notwen-
dige Seelenunruhe. Die christliche Befangenheit im Schuld- und Strafgedanken - ver-
breitet als Furcht, im Feuer der Hölle brennen zu müssen und davor für alle Fälle sich
bewahren zu wollen - ist eine Herabwürdigung Gottes zu einem Richter.
Wie der Strafgedanke verdirbt auch der Lohngedanke schon manche Formulierun-
gen der Jesusworte. Er verführt zu Sicherung und Stolz und bringt in das Ethos des
Neuen Testaments mit seiner wunderbaren Tiefe eine Unreinheit.
Immer die Verheissung: Es wird euch im Himmel wohl belohnt werden;386 - oder:
dein Vater wird dir’s vergelten;387 - oder: mit welcherlei Maass ihr messet, wird euch
gemessen werden388 (also eine neue Form des verworfenen Aug um Auge, Zahn um
Zahn) ,389 Gott wird seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, Recht schaf-
fen in Kürze.390 Jesus droht: Wer sich zu mir bekennt vor den Menschen, zu dem will
ich mich bekennen vor meinem himmlischen Vater. Wer mich aber verleugnet vor den
a statt Strafe liegt metaphysisch in der Handlung selbst, nicht in einer Folge, im Sein, das dieses tut,
nicht in einem hinzukommenden Akt. im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. 11 Gott ist die Wirklich-
keit, die alles trägt, die einzige eine Wirklichkeit. Sie wird verschleiert durch Realisierung von
Gleichnissen, die nur als relative Aspekte im verschwindenden Übergang den Wert einer Sprache
haben. ||