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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0493
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Grundsätze des Philosophierens

Ausschliesslichkeitsanspruchs der von jedem vermeintlich vertretenen absoluten
Wahrheit.
Angesichts dieser gesamten Wirklichkeit3 bleibt dem philosophischen Glauben nur
die schmerzvolle, schwer zu übernehmende Einsicht, dass gegen Intoleranz nur Into-
leranz möglich ist; dass gegen Communicationsabbruch und gegen das Verbot der nur
noch unter Bedingungen zugelassenen Vernunft der beste Wille zu offener Commu-
nication versagt; dass restlose Communicationsbereitschaft allein mit der Haltung
philosophischen Glaubens zusammenzugehören scheint.
Ich verstehe, wie man sich zu Jesus neutral verhalten kann, indem man diesen Men-
schen, soweit er sichtbar ist, sich vergegenwärtigt. Diese Neutralität ist erlaubt, wenn
es auch dem Philosophierenden angemessener ist, von der Wirklichkeit dieses ausser-
ordentlichen Menschen betroffen zu sein. Aber Jesus ist etwas ganz anderes als Chri-
stus. Ich verstehe nicht, wie man zum Christusglauben, der Ausschliesslichkeit bean-
sprucht, sich neutral verhalten kann. Es ist gedankenlos, gegen Intoleranz tolerant zu
sein. Das wäre nur möglich, wo man die Intoleranz als faktisch ungefährlich wie eine
wunderliche seelische Anomalie nach Analogie psychiatrischer Realitäten behandeln
dürfte. So ist es aber mit dem Christusglauben ganz und gar nicht. Er erstrebt aus der
Natur seines Wesens den ausschliesslichen Anspruch durch immer wieder mächtige
Institutionen und steht ständig auf dem Sprunge, von neuem die Scheiterhaufen für
Ketzer zu entflammen. Das liegt in der Sache des Christusglaubens, mögen auch noch
so viele wohlmeinende Christen das Gegenteil versichern und für ihre Person nicht
die geringste Neigung zu Gewalt und zur Vernichtung der in ihrem Sinn Ungläubigen
haben.
Weil Intoleranz gegen Intoleranz (aber auch nur gegen sie) unumgänglich ist, ist
Intoleranz gegen den Christusglauben dann notwendig, aber auch nur dann, wenn er
mit dem Anspruch alleiniger und ausschliesslicher Wahrheit für alle auftritt, wenn er
also seinen Glauben nicht nur verkündigt zur Prüfung durch andere, sondern ihn auf-
zwingen will durch listige Propaganda und durch Gewalt. Der Christusglauben in der
Welt muss sich beschränken auf eine geschichtliche Gestalt der Gottesbeziehung, die
er ist. Als solcher weiss er sich neben anderen berechtigten und - wie diese - nur für
sich selbst unbedingt, nicht als allgemeingiltig wahr. Nur so kann und darf Glaubens-
wahrheit, die inbezug auf sich selber wahrhaftig ist, sich selbst verstehen. Vollzieht der
Christusglaube diese Beschränkung nicht, so bleiben die Möglichkeiten, dass er durch
Gewalt, aber wie alle Gewalt nur für eine Zeit in der Welt triumphiert, dass er zu ande-
rer Zeit von den nicht an Christus glaubenden Menschen wieder vernichtet wird, wäh-
rend er dann in einer von ihm für vorübergehend gehaltenen Ohnmacht sich in einer
Scheintoleranz verbirgt.

Wirklichkeit im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu Realität
 
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