496
Grundsätze des Philosophierens
So würde also Realität des Glaubens Enge des Bekenntnisses fordern um den Preis
der vollen Wahrheit des Glaubens. Wahrheit des Glaubens dagegen würde die Weite
der Seinszuwendung bringen um den Preis der wirksamen Realität dieses Glaubens.
Diese Antinomie wird eine Grundfrage nach der eigentlichen Wahrheit und Wirk-
lichkeit des Glaubens. Ihr wenden wir uns zu, indem wir vorläufig drei Grundsätze auf-
stellen, deren Sinn dann weiter zu erörtern sein wird:
1. Christentum umfasst mehr als den Christusglauben: Wenn das Christentum iden-
tisch ist mit dem Glauben an Jesus als Gottes Sohn und Gott, an seinen Tod als Opfer-
tod für die Sünden der Menschheit, an sein Leben, Sterben und Auferstehen als Heils-
geschehen für alle, die an ihn glauben, derart, dass allein der Glaube an ihn selig macht
und rettet, dann wäre das Christentum heute nach allen Zeichen der Zeit in schnellem
Vergehen. Sogar die sich bekennenden Christusgläubigen scheinen in der Mehrzahl
nicht eigentlich diesen Glauben zu vollziehen. Aber das historische Christentum ist
unendlich mehr. Es umfasst die biblische Religion. Wenn diese auch vom Christusglau-
ben her für diesen umgedeutet wurde, so hat sie doch in ihrer Ganzheit eine eigene,
umfassendere Gewalt und Wahrheit, von der aus jene einseitigen Deutungen histori-
scher Vergewaltigung wieder aufgehoben werden können. Mit der Preisgabe des verab-
solutierten Christusglaubens fällt keineswegs das Christentum als biblische Religion.
2. Biblische Religion umfasst mehr als das Christentum: Wenn das Christentum bi-
blische Religion ist, so gibt es doch das Christentum in vielerlei Gestalten der bibli-
schen Religion und darüber hinaus gibt es biblische Religion, die nicht Christentum
ist. Daher ist biblische Religion ein Umfassendes, das im Ganzen in keiner realen Kon-
fession wirklich ist.
Das gesamte Abendland lebt aus der biblischen Religion. Alle berufen sich auf die
Bibel, die vielen christlichen Kirchen und Sekten, die Ostkirchen, das Judentum und
auch der Islam, der hier den Ursprung seines Gehaltes hat (der so dürftig wurde, weil
ihm die Bibel nicht zum Kanon gehörte). Jeder behauptet die echte, alleinige Wahr-
heit zu haben.
Offenbar darf man das Ganze der biblischen Religion nicht verwechseln mit den
einzelnen aus ihr kommenden Ausprägungen, nicht mit nationaler Jahwereligion,
nicht mit jüdischer Gesetzesreligion, nicht mit dem Christusglauben. Die Bibel um-
fasst mehr als jede dieser Besonderungen, die sie in sich schliesst.
In der Bibel sind die äussersten Polaritäten wirklich: Magie und Magieüberwin-
dung; rauschhafter Naturkult und nüchtern leidenschaftliche Anbetung des bildlo-
sen Schöpfergottes; Kultreligion der Priester und kultfremder Glaube der Propheten;
gottnahes Vertrauen und verzweifelnde Gottferne; nationale Religion und Mensch-
heitsreligion; eschatologische weltfreie Religion und weltgestaltende Religion. Das
Sichausschliessende ist in der einen Bibel ausgesprochen. Fast zu jeder Position findet
man in ihr auch die Gegenposition. Die historischen Entwicklungsschichten und die
Grundsätze des Philosophierens
So würde also Realität des Glaubens Enge des Bekenntnisses fordern um den Preis
der vollen Wahrheit des Glaubens. Wahrheit des Glaubens dagegen würde die Weite
der Seinszuwendung bringen um den Preis der wirksamen Realität dieses Glaubens.
Diese Antinomie wird eine Grundfrage nach der eigentlichen Wahrheit und Wirk-
lichkeit des Glaubens. Ihr wenden wir uns zu, indem wir vorläufig drei Grundsätze auf-
stellen, deren Sinn dann weiter zu erörtern sein wird:
1. Christentum umfasst mehr als den Christusglauben: Wenn das Christentum iden-
tisch ist mit dem Glauben an Jesus als Gottes Sohn und Gott, an seinen Tod als Opfer-
tod für die Sünden der Menschheit, an sein Leben, Sterben und Auferstehen als Heils-
geschehen für alle, die an ihn glauben, derart, dass allein der Glaube an ihn selig macht
und rettet, dann wäre das Christentum heute nach allen Zeichen der Zeit in schnellem
Vergehen. Sogar die sich bekennenden Christusgläubigen scheinen in der Mehrzahl
nicht eigentlich diesen Glauben zu vollziehen. Aber das historische Christentum ist
unendlich mehr. Es umfasst die biblische Religion. Wenn diese auch vom Christusglau-
ben her für diesen umgedeutet wurde, so hat sie doch in ihrer Ganzheit eine eigene,
umfassendere Gewalt und Wahrheit, von der aus jene einseitigen Deutungen histori-
scher Vergewaltigung wieder aufgehoben werden können. Mit der Preisgabe des verab-
solutierten Christusglaubens fällt keineswegs das Christentum als biblische Religion.
2. Biblische Religion umfasst mehr als das Christentum: Wenn das Christentum bi-
blische Religion ist, so gibt es doch das Christentum in vielerlei Gestalten der bibli-
schen Religion und darüber hinaus gibt es biblische Religion, die nicht Christentum
ist. Daher ist biblische Religion ein Umfassendes, das im Ganzen in keiner realen Kon-
fession wirklich ist.
Das gesamte Abendland lebt aus der biblischen Religion. Alle berufen sich auf die
Bibel, die vielen christlichen Kirchen und Sekten, die Ostkirchen, das Judentum und
auch der Islam, der hier den Ursprung seines Gehaltes hat (der so dürftig wurde, weil
ihm die Bibel nicht zum Kanon gehörte). Jeder behauptet die echte, alleinige Wahr-
heit zu haben.
Offenbar darf man das Ganze der biblischen Religion nicht verwechseln mit den
einzelnen aus ihr kommenden Ausprägungen, nicht mit nationaler Jahwereligion,
nicht mit jüdischer Gesetzesreligion, nicht mit dem Christusglauben. Die Bibel um-
fasst mehr als jede dieser Besonderungen, die sie in sich schliesst.
In der Bibel sind die äussersten Polaritäten wirklich: Magie und Magieüberwin-
dung; rauschhafter Naturkult und nüchtern leidenschaftliche Anbetung des bildlo-
sen Schöpfergottes; Kultreligion der Priester und kultfremder Glaube der Propheten;
gottnahes Vertrauen und verzweifelnde Gottferne; nationale Religion und Mensch-
heitsreligion; eschatologische weltfreie Religion und weltgestaltende Religion. Das
Sichausschliessende ist in der einen Bibel ausgesprochen. Fast zu jeder Position findet
man in ihr auch die Gegenposition. Die historischen Entwicklungsschichten und die