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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0505
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Grundsätze des Philosophierens

Wir haben nicht dieselbe Ehrfurcht, möchten aber die eigene wohl über die Treue
hinaus begründen. Hören wir die Berufung auf »das Wort«, so klingt etwas an vom Un-
heimlichen, Übermächtigen, einer grenzenlosen Deutung und Entfaltung Zugängli-
chen3. Es ist in der Tat das Geheimnis der Tiefe schaffenden Geistes, dass, was er sagt,
mehr enthält, als er weiss und meint. Aber dies gilt dann von den Worten der Vorsokra-
tiker, der Tragödie, Platos nicht weniger als denen der Bibel. - Oder vergegenwärtigen
wir uns das Rätsel der Kontinuität eines Glaubens in dem Jahrtausend der Bibel durch
alle Widersprüche, Heterogenitäten in äusserst verschiedenen Umwelten hindurch, so
kann das wie ein zwingender Hinweis wirken auf Gott als Ursprung, der sich in der Ab-
wandlung dieser Erscheinungen als das Eine offenbart, das alles trägt und worauf alles
bezogen ist. Es ist kein blos sociologisches, psychologisches, geistesgeschichtliches
Nacheinander, sondern darin geschieht die Mitteilung der einen Transcendenz - eine
Grundüberzeugung, die in der Objektivierung zu einer wörtlichen Inspiration nur ab-
geglitten und daher falsch ausgesprochen wird. Aber solche in der Tat wundersam wir-
kende Continuität haben wir nicht weniger in griechischer Geistesgeschichte und an-
deren gehaltvollen Zusammenhängen. - So gelingt es nicht, die Ehrfurcht uns begreiflich
zu machen, äusser durch Gründe, welche die Bibel gerade nicht als eine einzige Aus-
nahme stehen lassen. Noch weniger kann das Ferne und Fremde, Uralte mit seinem Ge-
heimnis und seiner Weite der Grund sein. So bleibt uns, die wir im Übergang zu weite-
rer Saecularisierung leben, entscheidend nur der Grund der Treue zu dem Faktum des
Glaubens Zweier jahrtausende, Pietät, nicht eigener ursprünglicher Glaube.
Es bleibt aber doch die doppelte Haltung. Das heilige Buch mit Ehrfurcht spüren,
das schliesst nicht aus, es unbeschränkt zu analysieren und zu interpretieren als eine
Erscheinung in der Welt, d.h. als menschliches Geistesgebilde, das historisch gewor-
den ist. Schliesst eins das andere aus, so wird es unwahr. Denn ehrfurchtslose Positivi-
tät des Historikers verliert die Gehalte; was er erkennt, mag richtig sein, es wirkt gleich-
giltig, bleibt im Äusserlichen hängen. Ehrfürchtige Blindheit aber wird unredlich und
verliert zudem eine Tiefe des Ergriffenwerdenkönnens, die nur durch das Wissen sich
öffnen kann.
Alle Interpretation, die sich lohnt, muss den Weg finden vom Buchstaben zum
Geist, vom Fasslichen zum Unfasslichen, vom Verstehbaren zum Geglaubten, vom
wörtlichen Wort zum geoffenbarten Wort.
Dann wird die Philologie zwar Feind aller falschen Orthodoxie, aller Fixierung an
unverlässliche Berichte. Sie vermag nicht zu erkennen, was Gottes Wort ist. Denn al-
les, was durch sie erkennbar ist, das ist als solches nicht Gottes Wort. Aber, wenn die-
ses sprechen sollte, so doch nur in der Reinheit der Atmosphäre, die durch Philologie

statt Zugänglichen in den Abschriften Gertrud Jaspers, A. F. und Schott Zugänglichem
 
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