Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0520
License: Free access  - all rights reserved

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Grundsätze des Philosophierens

517

3) Die Begegnung mit Gott wird eigennützig, oder sie wird sentimentale Gefühls-
schwelgerei, in beiden Fällen Täuschung. Eine Gefahr dieser Gebetsreligion wird die
Zudringlichkeit zur Gottheit in anspruchsvoller und egocentrischer Seelenhaltung.
Eine andere Gefahr vermeintlicher Gottesbegegnung ist die Neigung zur Absolut-
heit und Sicherheit im Wissen von Gottes Willen, die die Quelle von Fanatismen wird.
Allesa Entsetzliche, das in der Welt getan wurde, ist durch Gottes Willen begründet
worden. Damit hängt zusammen das Überhören der Vieldeutigkeit13 in allen Erfahrun-
gen von Gottes Stimme. Wer gewiss weiss, was Gott sagt und will, macht Gott zu ei-
nem Wesen in der Welt, über das er verfügt, und ist damit auf dem Weg zum Aberglau-
ben. Auf Gottes Stimme aber ist kein Anspruch und keine Rechtfertigung in der Welt
zu gründen. Was im einzelnen Menschen entscheidend, begründend, Gewissheit ist
und zuweilen in Gemeinschaft werden kann, gilt als solches keineswegs objektiv0.
4) Die Gebote Gottes werden aus den einfachen Grundlagen menschlicher Sittlich-
keit zu abstrakten Sätzen juristischen Sinnes, entwickeln sich zu endloser Gesetzlich-
keit besonderer Bestimmungen.
.5) Das Bewusstsein der Geschichtlichkeit verliert sich in historisch-objektiver An-
schauung. Dann entsteht ein vermeintliches Verfügen über die Weltgeschichte, sei es
gedanklich in einem Wissen vom Ganzen, sei es gar aktiv aus dem Bewusstsein, Voll-
strecker des dem Handelnden bekannten Planes Gottes zu sein. Oder es entsteht eine
aesthetische Anschauung unter Verlust des Ernstes der eigenen Existenz, sei es vor dem
ungeheuren Ganzen der Geschichte, sei es vor dem eigenen Dasein, das wie ein Kunst-
werk als eigenes Gebilde geformt wird.
6) Das Leiden wird in psychologischen Umsetzungen zu masochistischer Lust oder
wird sadistisch bejaht, oder es wird gedacht als Opfer in längst überwundenen magi-
schen Kategorien.
7) Die Offenheit für Unlösbarkeiten führt zur Verzweiflung oder in den Nihilismus,
in die Empörung einer ungeheuren Negativität.
In der Geschichte der biblischen Religion zeigen sich bis heute diese zu ihr gehö-
renden Entgleisungen. Die leidenschaftliche Wildheit, die nicht selten darin er-
scheint, ist wie eine Verkehrung des ursprünglichen Glaubenspathos. Die alten An-
triebe des Glaubens zwingen noch in der Verstrickung die falschen Consequenzen zu
vollziehen in einer schaurigen Vereinigung mit vitalen Trieben und ihren Pervertie-
rungen.

a Alles im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu Vieles
t> Damit hängt zusammen das Überhören der Vieldeutigkeit im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu
Fanatiker überhören die Vieldeutigkeit
c entscheidend, begründend, Gewissheit im Vorlesungs-Ms. 1945/4 6 hs. Vdg. zu begründende Gewissheit
d gilt als solches keineswegs objektiv im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu das gilt keineswegs in in-
haltlich aussagbarer Bestimmtheit für alle
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften