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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0521
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518

Grundsätze des Philosophierens

bb. Das Wiedergewinnen der sich gleich bleibenden Wahrheit:454 Wahre Verwand-
lung ist Rückkehr zum Ursprünglichen. Alt gewordene Kleider müssen abgeworfen, ge-
genwärtig angemessene hervorgebracht werden. Das Ursprüngliche ist aber nicht das
Anfängliche, sondern das Jederzeitige, das eigentlich, das ewig und darum in der Zeit
dauernd ist. Ausgesprochen aber hat es sofort sein zeitliches Kleid. Doch in der Zeit ist
in der Gestalt dieser Zeit der Glaube seinem Kleide gemäss.
Nicht blos alt gewordene Kleider sind abzuwerfen, sondern das Ursprüngliche aus
den Fixierungen und den Einseitigkeiten, den Verkehrungen und Verstrickungen zu
retten. Es selber wird, indem es sich klärt, gesteigert.
1) Zurückholen aus specifischen Fixierungen: Die Wahrheit der biblischen Religion
steht gegen die Fixierungen, die in ihr selber vollzogen wurden, die vielleicht einmal
geschichtlich giltig waren, es aber jetzt für eine philosophische Besinnung nicht mehr
sind, z.B. die nationale Religion, die Gesetzesreligion, die specifische Christusreligion:
Preiszugeben ist die nationale Religion, wie sie in den frühen Stadien der biblischen
Religion als israelitische Jahwereligion wirklich war, und wie sie besonders von prote-
stantischen, zumal calvinistischen Richtungen wiederholt wurde, als sie sich in ihrem
Christentum mehr auf Teile des alten als auf das Ganze und auf das neue Testament
stützten.
Preiszugeben ist die Gesetzesreligion, wie sie in Esra und Nehemia, in den Haupt-
teilen des Priesterkodex und vielen Redaktionen der alttestamentlichen Schriften als
das Judentum im engeren Sinne Gestalt gewonnen hat. Preiszugeben ist mit der Ge-
setze sreligion die Priesterherrschaft (Hierokratie), wie sie vom Judentum unter Fremd-
herrschaft geschaffen und verwirklicht, von christlichen Kirchen fortgesetzt oder be-
ansprucht wurde.
Preiszugeben ist die Christusreligion, die in Jesus Gott sieht und auf einen Opfer-
gedanken des Deuterojesaias, angewandt auf Jesus, das Heilsgeschehen gründet.
Jede dieser drei Religionsformen wird eng, obgleich jede ausgeht von einem Wahr-
heitsmoment. Aber die nationale Religion kann als solche nicht die absolute sein und
kann nur eine vordergründliche Erscheinungswahrheit aussprechen. Die Gesetzesre-
ligion veräusserlicht die Tiefe des Gesetzesgedankens und lässt ihn in eine Mannigfal-
tigkeit von Absurditäten sich auflösen. Die Christusreligion enthält die Wahrheit, dass
Gott zum Menschen durch Menschen spricht, aber Gott spricht durch viele Men-
schen, in der Bibel durch die Reihe der Propheten, in der als letzter Jesus steht; Gott
spricht durch keinen Menschen absolut, durch jeden auch noch vieldeutig.
2) Zurückgewinnen der polaren Spannungen: Es gehört zur Aneignung der in der
Bibel zur Erscheinung kommenden ursprünglichen Wahrheit, dass die in der Bibel vor-
kommenden Widersprüche bewusst vergegenwärtigt werden. Widersprüche haben ei-
nen mehrfachen Sinn. Rationale Widersprüche führen zu Alternativen, von denen nur
die eine Seite richtig sein kann. Widerstreitende Kräfte bilden je ein polares Ganzes,
 
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