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Karl Jaspers - Piper Verlag (1949)
Mit grossem Interesse habe ich einer Zeitungsnotiz entnommen, dass der nächste
Gegenstand Ihrer Vorlesungen in Basel eine Einführung in die Philosophie ist.274 Um
dieses Buch möchte ich mich, verehrter Herr Professor, schon heute für unseren Ver-
lag bewerben. Es würde mich ausserordentlich interessieren, von Ihnen zu erfahren,
ob Sie in den angekündigten Vorlesungen auch eine philosophiegeschichtliche Ein-
führung geben oder vielleicht mehr eine Interpretation der philosophischen Ideen-
entwicklung im grossen Überblick. Ich glaube jedenfalls sagen zu können, dass gerade
ein Buch mit diesem Thema nicht nur unter den Lesern Ihrer bisherigen Bücher, son-
dern weit darüber hinaus viele Leser finden würde, die sowohl eine moderne Sicht auf
die philosophische Gesamtentwicklung wie einen Begriff der Position der Existenz-
philosophie darin gewinnen wollen.
Viel habe ich seit meinem Besuch bei Ihnen275 über das Thema der deutschen
Selbstbesinnung nachgedacht und dabei immer wieder nach der Brücke gesucht zwi-
schen der Konzeption eines Deutschtums, das sich, unabhängig von jedem Machtzen-
trum, überall in der Welt heute verwirklichen könnte, und dem konkreten Schicksal
der 65 Millionen Menschen, die in den vier Zonen leben.
Gestern war hier Bundespräsident Heuss zum Staatsbesuch in München. Die Kin-
der hatten schulfrei. Die öffentlichen Gebäude waren bescheiden beflaggt, haupt-
sächlich weiss-blau, hie und da schwarz-rot-gold. Es wird kein leichter Weg sein,
bis diese deutsche Bundesrepublik eine lebendige, das Volk auch ethisch-politisch
erfüllende Wirklichkeit wird. Es ist noch Vieles schwankend und zwielichtig, z.B. die
Beziehungen zur Ostzone, deren Trennung vom übrigen Deutschland - man emp-
findet dies fast täglich mehr - ohne Zweifel einer der schwersten Versager der alliier-
ten Mächte als Friedensschaffer war. Es wird gegenwärtig von der Ostzone in massiver
Weise auch um die Intelligenz in Westdeutschland geworben, wie Sie aus dem bei-
liegenden Sonderdruck der Deutschen Wirtschaftskommission sehen können, den
ich durch einen ostzonalen Wissenschaftler erhielt, der an einem Kongress in Mün-
chen teilnahm (Motto: »Im sozialistischen Ostdeutschland ist die Intelligenz an der
Spitze, im kapitalistischen Westen die Konservenfabrikanten«).276 Leider ist diese,
in der Grundgesinnung und Erkenntnis natürlich falsche Alternative insofern doch
nicht völlig aus der Luft gegriffen, als die materiellen Voraussetzungen z.B. für die wis-
senschaftliche Arbeit in Westdeutschland vielfach katastrophal sind. Ich höre immer
wieder, dass es Universitäts-Institute gibt, die keine 100 Mark Etat im Monat haben.
Ein führendes chemisches Institut an der hiesigen technischen Hochschule hat im
Monat ganze 400 Mark.
Erfreulicherweise ist auch viel Positives zu berichten von hier. Es gab in München
schöne Kunstausstellungen, darunter eine besonders interessante des »Blauen Rei-
ters«, der Künstlergruppe, die unter der Führung von Kandinsky, Franz Marc, Klee
usw. vor nun über 40 Jahren den entscheidenden Vorstoss in die moderne Kunst getan
Karl Jaspers - Piper Verlag (1949)
Mit grossem Interesse habe ich einer Zeitungsnotiz entnommen, dass der nächste
Gegenstand Ihrer Vorlesungen in Basel eine Einführung in die Philosophie ist.274 Um
dieses Buch möchte ich mich, verehrter Herr Professor, schon heute für unseren Ver-
lag bewerben. Es würde mich ausserordentlich interessieren, von Ihnen zu erfahren,
ob Sie in den angekündigten Vorlesungen auch eine philosophiegeschichtliche Ein-
führung geben oder vielleicht mehr eine Interpretation der philosophischen Ideen-
entwicklung im grossen Überblick. Ich glaube jedenfalls sagen zu können, dass gerade
ein Buch mit diesem Thema nicht nur unter den Lesern Ihrer bisherigen Bücher, son-
dern weit darüber hinaus viele Leser finden würde, die sowohl eine moderne Sicht auf
die philosophische Gesamtentwicklung wie einen Begriff der Position der Existenz-
philosophie darin gewinnen wollen.
Viel habe ich seit meinem Besuch bei Ihnen275 über das Thema der deutschen
Selbstbesinnung nachgedacht und dabei immer wieder nach der Brücke gesucht zwi-
schen der Konzeption eines Deutschtums, das sich, unabhängig von jedem Machtzen-
trum, überall in der Welt heute verwirklichen könnte, und dem konkreten Schicksal
der 65 Millionen Menschen, die in den vier Zonen leben.
Gestern war hier Bundespräsident Heuss zum Staatsbesuch in München. Die Kin-
der hatten schulfrei. Die öffentlichen Gebäude waren bescheiden beflaggt, haupt-
sächlich weiss-blau, hie und da schwarz-rot-gold. Es wird kein leichter Weg sein,
bis diese deutsche Bundesrepublik eine lebendige, das Volk auch ethisch-politisch
erfüllende Wirklichkeit wird. Es ist noch Vieles schwankend und zwielichtig, z.B. die
Beziehungen zur Ostzone, deren Trennung vom übrigen Deutschland - man emp-
findet dies fast täglich mehr - ohne Zweifel einer der schwersten Versager der alliier-
ten Mächte als Friedensschaffer war. Es wird gegenwärtig von der Ostzone in massiver
Weise auch um die Intelligenz in Westdeutschland geworben, wie Sie aus dem bei-
liegenden Sonderdruck der Deutschen Wirtschaftskommission sehen können, den
ich durch einen ostzonalen Wissenschaftler erhielt, der an einem Kongress in Mün-
chen teilnahm (Motto: »Im sozialistischen Ostdeutschland ist die Intelligenz an der
Spitze, im kapitalistischen Westen die Konservenfabrikanten«).276 Leider ist diese,
in der Grundgesinnung und Erkenntnis natürlich falsche Alternative insofern doch
nicht völlig aus der Luft gegriffen, als die materiellen Voraussetzungen z.B. für die wis-
senschaftliche Arbeit in Westdeutschland vielfach katastrophal sind. Ich höre immer
wieder, dass es Universitäts-Institute gibt, die keine 100 Mark Etat im Monat haben.
Ein führendes chemisches Institut an der hiesigen technischen Hochschule hat im
Monat ganze 400 Mark.
Erfreulicherweise ist auch viel Positives zu berichten von hier. Es gab in München
schöne Kunstausstellungen, darunter eine besonders interessante des »Blauen Rei-
ters«, der Künstlergruppe, die unter der Führung von Kandinsky, Franz Marc, Klee
usw. vor nun über 40 Jahren den entscheidenden Vorstoss in die moderne Kunst getan