Karl Jaspers - Piper Verlag (1951)
135
73 Karl Jaspers an Klaus Piper
Typoskript; DLA, A: Piper, hs. PS, mit dem Stempel Prof. Karl Jaspers Basel Austrasse 126
Basel, den 14. III. 51
Austrasse 126
Sehr verehrter Herr Piper,
meinen herzlichsten Dank für Ihren Brief vom 9. d.M.
Ihr Wunsch, mein Buch »Deutsche Selbstbesinnung« zu schreiben, ermuntert
mich durch die Art Ihrer Begründung ausserordentlich. Zwar habe ich die Jahre hin-
durch immer wieder Notizen gemacht und gesammelt. Aber mein Antrieb erlahmte in
dem Bewusstsein, in einen leeren Raum zu reden. Ihre Worte verwandeln mit einem
Schlage dieses Bewusstsein. Ich hatte es mir bisher nicht recht klar gemacht, dass die
Lust eigentlich verloren ging. Jetzt ist die alte Unruhe, hier etwas sagen zu sollen, wie-
der da. Noch kann ich Ihnen nichts versprechen. Aber ich habe es im Auge.376
Literatur brauche ich natürlich. Ich schicke Ihnen eine Liste mit der Bitte, wie frü-
her das Gewünschte zu Lasten meines alten Kontos mir schicken zu lassen.
Das Buch von Hannah Arendt wird erst Ende März in Amerika in den Buchhan-
del gegeben. Ich habe ein Exemplar vorab bekommen. Bei der Lektüre sind meine
Erwartungen bisher übertroffen. Einige Vorabdrucke sind in Aufsätzen in der »Wand-
lung« und, wie ich meine, im »Monat« erschienen. Die Nummern kann ich leider
nicht feststellen.377 Das Buch hat 477 Seiten. Ich halte es für ein grossartiges Werk. In
drei Teilen behandelt es 1. den Antisemitismus, 2. den Imperialismus, 3. den Tota-
litarismus. Es ist überall, soweit ich bisher las, ungemein konkret. Wie wir dazu
gekommen sind, dass heute der Mensch überflüssig wird, die Betroffenheit von dem
Unheil, die Beschwörung der Verantwortung und die grosse Hoffnung stehen hin-
ter den Darlegungen der Entwicklungen der letzten 100 Jahre. Es finden sich über-
raschende Dinge. Ihre Redlichkeit ist unbeirrbar. Die Juden, fürchte ich, werden
empört sein über das, was diese beste Jüdin zu sehen und zu sagen wagt. Die gros-
sen englischen Imperialisten stehen als Persönlichkeiten durch eine Charakteristik
aus dem Sinn ihrer Funktionen plastisch vor Augen. Lawrence' Schicksal scheint mir
ganz neu gesehen.378 Sachlich kann ich Ihnen das Buch nur rückhaltlos empfehlen.
Wie weit damit in Deutschland ein Interesse erweckt wird und der entsprechende
Absatz erfolgt, das müssen Sie erwägen. Das Buch liest sich spannend. Ich sage alles
aufgrund der Lektüre von Teilen; das ganze habe ich noch nicht gelesen. Ich glaube
nicht, dass ich durch meine grosse Bewunderung für Hannah Arendt befangen im
Urteil bin. Natürlich sind viele ihrer Positionen Gegenstand möglicher Diskussion.
Die Entschiedenheit ihres Urteils wird gewiss manchen Widerspruch erwecken. Die
breite empirische Grundlage ist unbezweifelbar. Ihr Sinn für Form und ihre Übung
in Essais, durch die sie sich in Amerika einen angesehenen Namen gemacht hat,
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73 Karl Jaspers an Klaus Piper
Typoskript; DLA, A: Piper, hs. PS, mit dem Stempel Prof. Karl Jaspers Basel Austrasse 126
Basel, den 14. III. 51
Austrasse 126
Sehr verehrter Herr Piper,
meinen herzlichsten Dank für Ihren Brief vom 9. d.M.
Ihr Wunsch, mein Buch »Deutsche Selbstbesinnung« zu schreiben, ermuntert
mich durch die Art Ihrer Begründung ausserordentlich. Zwar habe ich die Jahre hin-
durch immer wieder Notizen gemacht und gesammelt. Aber mein Antrieb erlahmte in
dem Bewusstsein, in einen leeren Raum zu reden. Ihre Worte verwandeln mit einem
Schlage dieses Bewusstsein. Ich hatte es mir bisher nicht recht klar gemacht, dass die
Lust eigentlich verloren ging. Jetzt ist die alte Unruhe, hier etwas sagen zu sollen, wie-
der da. Noch kann ich Ihnen nichts versprechen. Aber ich habe es im Auge.376
Literatur brauche ich natürlich. Ich schicke Ihnen eine Liste mit der Bitte, wie frü-
her das Gewünschte zu Lasten meines alten Kontos mir schicken zu lassen.
Das Buch von Hannah Arendt wird erst Ende März in Amerika in den Buchhan-
del gegeben. Ich habe ein Exemplar vorab bekommen. Bei der Lektüre sind meine
Erwartungen bisher übertroffen. Einige Vorabdrucke sind in Aufsätzen in der »Wand-
lung« und, wie ich meine, im »Monat« erschienen. Die Nummern kann ich leider
nicht feststellen.377 Das Buch hat 477 Seiten. Ich halte es für ein grossartiges Werk. In
drei Teilen behandelt es 1. den Antisemitismus, 2. den Imperialismus, 3. den Tota-
litarismus. Es ist überall, soweit ich bisher las, ungemein konkret. Wie wir dazu
gekommen sind, dass heute der Mensch überflüssig wird, die Betroffenheit von dem
Unheil, die Beschwörung der Verantwortung und die grosse Hoffnung stehen hin-
ter den Darlegungen der Entwicklungen der letzten 100 Jahre. Es finden sich über-
raschende Dinge. Ihre Redlichkeit ist unbeirrbar. Die Juden, fürchte ich, werden
empört sein über das, was diese beste Jüdin zu sehen und zu sagen wagt. Die gros-
sen englischen Imperialisten stehen als Persönlichkeiten durch eine Charakteristik
aus dem Sinn ihrer Funktionen plastisch vor Augen. Lawrence' Schicksal scheint mir
ganz neu gesehen.378 Sachlich kann ich Ihnen das Buch nur rückhaltlos empfehlen.
Wie weit damit in Deutschland ein Interesse erweckt wird und der entsprechende
Absatz erfolgt, das müssen Sie erwägen. Das Buch liest sich spannend. Ich sage alles
aufgrund der Lektüre von Teilen; das ganze habe ich noch nicht gelesen. Ich glaube
nicht, dass ich durch meine grosse Bewunderung für Hannah Arendt befangen im
Urteil bin. Natürlich sind viele ihrer Positionen Gegenstand möglicher Diskussion.
Die Entschiedenheit ihres Urteils wird gewiss manchen Widerspruch erwecken. Die
breite empirische Grundlage ist unbezweifelbar. Ihr Sinn für Form und ihre Übung
in Essais, durch die sie sich in Amerika einen angesehenen Namen gemacht hat,