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Jaspers, Karl; Piper, Klaus; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 3, Band 8,2): Ausgewählte Korrespondenzen mit dem Piper Verlag und Klaus Piper 1942-1968 — Basel: Schwabe Verlag, 2020

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Karl Jaspers - Piper Verlag (1956)

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Ich freue mich, dass Ihnen, Herr Professor, ein Besuch von mir im Frühjahr will-
kommen ist. Ob ich die Reise vor dem 20.4. machen kann, ist noch fraglich, da der
April ein sehr wichtiger Monat ist, um das Herbstprogramm abzuschliessen. Leider
haben wir noch einige erhebliche Termin-Ringkämpfe zu führen. Ich werde mir erlau-
ben, Ihnen rechtzeitig weitere Nachricht wegen der fraglichen Reise zu geben.775
Am nächsten Montag fahre ich für neun Tage nach London, um unsere inzwi-
schen ziemlich erweiterten Beziehungen zu den wichtigen englischen Verlagen und
literarischen Agenturen durch persönliche Besuche zu intensivieren. Könnte ich viel-
leicht in einer Übersetzungsangelegenheit irgendetwas in London für Sie erledigen?
Meine Adresse ist folgende: Fleming's Hotel, Half-Moon-Street.776
Ich bin auf diese Reise ungemein gespannt, da ich noch nie in England war, mich
andererseits die englische Lebensatmosphäre in der Literatur seit meiner Jugend ange-
zogen hat.
Das Manuskript von Jeanne Hersch über die Ideologien habe ich in Bad Gastein zu
Ende gelesen. Ich bin eben dabei, ihr einen ausführlichen Brief über meine Eindrücke
zu schreiben.777 Wenn ich es versuchen darf, diese in Kürze hier auszusprechen: Die
noble Gesinnung, der Optimismus hinsichtlich dessen, was die Menschen von sich
selbst fordern können und was sie erfüllen sollen, hat mich sehr beeindruckt, ebenso
die gedankliche Klarheit wie auch sprachliche Qualität in allem, was an allgemeiner
Phänomenologie des modernen sozialen Lebens, des individuellen wie kollektiven,
geboten wird.
Im seelischen Nichtgenügen an der wirtschaftlichen Prosperität des Westens, bei
Jeanne Hersch in der »Offenheit« für die psychologischen, sozialen und materiellen
Motive der heutigen Ideologien, sehe ich den positiven Ausgangspunkt dieser Unter-
suchung.
Aber an der eigentlichen politisch-theoretischen Kritik, z.B. an der »Kapitalismus-
Ideologie«, befremdet mich doch manches sehr Theoretische und Doktrinäre.778 Frau
Hersch verabschiedet sich am Schluss ihrer Arbeit in einer sehr sympathischen Weise,
indem sie bemerkt, es sei letztlich eine sehr persönliche Darstellung und sie sei sich
ihrer Mängel bewusst (z.B. wisse sie wenig von moderner Wirtschaftsorganisation
und ähnlichem).779 Auch hier, in der Kapitalismus-Kritik und im Eintreten für einen
neuen freiheitlichen, antitotalitären Sozialismus sagt Jeanne Hersch viel Richtiges
und vor allem sagt sie es immer aufrichtig, aber man vermisst doch immer wieder
ein Einbeziehen der ungeheuer komplexen, widersprüchlichen gesellschaftlichen
Realität, wie wir sie in den letzten 10 Jahren erlebt haben. »Anarchie des Kapitalis-
mus«, »Dschungel des Wettbewerbs«, - hier schleudert Jeanne Hersch den Bann-
strahl,780 während sich die Führer der deutschen Sozialdemokratie ernsthaft, und
zwar eben nicht mehr doktrinär ablehnend, mit Marktwirtschaft und Wettbewerb be-
schäftigen.
 
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