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Jaspers, Karl; Piper, Klaus; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 3, Band 8,2): Ausgewählte Korrespondenzen mit dem Piper Verlag und Klaus Piper 1942-1968 — Basel: Schwabe Verlag, 2020

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382

Karl Jaspers - Piper Verlag (1960)

Staates« als Wiederholung des Deutschen Einheitsstaats-Modells des 19. Jahrhun-
derts als Ziel und Lösung der gegenwärtigen deutschen Politik ablehnen, dann wol-
len Sie damit weniger Bismarcks aus den Voraussetzungen seiner Zeit zu verstehende
Leistung nachträglich »zensieren«, oder das, was er getan hat, schlechthin verwerfen.
Worauf es Ihnen vielmehr ankommt, ist, in der Ratlosigkeit und unbestreitbaren Ver-
wirrung des jetzigen politischen deutschen Denkens zu zeigen, was faktisch in und
mit Deutschland geworden ist.
Die Begriffsverwirrung liegt ja darin, daß die Menschen, die die Wiedervereini-
gung fordern, zu allermeist gar nicht real das Bismarck-, das wilhelminische Deutsch-
land der Jahrzehnte von 1880 bis 1910 als die Lebensrealität, die sie jetzt herbeiführen
wollen, vor Augen haben. Man wünscht keine Wiederholung des damaligen gesell-
schaftlichen Zustandes mit klirrender Wehr, deutschen Kriegsschiffen auf allen Mee-
ren, Kolonien, vaterländischen Festreden von Turnlehrern und Regierungsräten, mit
Leutnantsherrlichkeit und rauchenden Schloten als Inbegriff deutscher Daseinsherr-
lichkeit. Diejenigen, die die Wiedervereinigung wünschen, meinen zumeist wohl ein-
fach die Wiederherstellung eines anständigen, normalen Lebens in der sowjetischen
Zone.
Ein eigentlich aktiver nationalistischer Machtwille, bewußte politische Reaktion,
ist wohl nur auf der rechtsradikalen Seite, den Herren der Deutschen Reichspartei
und Konsorten, anzutreffen. Diese letztere politische Spielart ist zur Zeit wahrschein-
lich von geringer praktischer Bedeutung, wenn man diese politische Fraktion als iso-
liert sieht; aber die ohne Zweifel bestehende unterirdische Förderung der Rechtsradi-
kalen durch die Kommunisten ist natürlich - wir sprachen davon - nach wie vor eine
äußerst gefährliche Perspektive.
Was Sie schon im Vorwort deutlich machen könnten, wäre vielleicht, daß Sie ent-
schieden zu dem substantiellen Ziel der deutschen Politik, Selbstbestimmung und
Eigenentfaltung des menschlichen Lebens als Grundbedingung der Freiheit in der
sowjetischen Zone herzustellen, beitragen wollen, daß aber das gute Ziel, in dem alle
einig sind, durch falsches Denken und schlechte Beurteilung der Bedingungen des
politischen Handelns verdorben wird, und leicht zum Verlust der Freiheit für ganz
Deutschland führen kann.
Nicht akzeptabel ist natürlich das manchmal zu hörende Argument, daß ein deut-
scher Einheitsstaat deshalb schon erreicht werden müßte, weil er natürliche Vor-
aussetzung für die Einheit Europas sei: »kein einheitliches Europa ohne einheitliche
Nationalstaaten als Zellen dieses Europas.« Diesem Argument, das einer politischen
Analyse nicht standhält, muß entschieden entgegengetreten werden. Denn die Beja-
hung der Idee eines Deutschlands, das Sie in so eindringlichen Farben als Erbe zweier
Jahrtausende gekennzeichnet haben, - diese Idee ist es ja gerade, die beim gleichzeiti-
gen Verzicht auf Zusammenfassung Deutschlands im großen Nationalstaat das posi-
 
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