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Jaspers, Karl; Piper, Klaus; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 3, Band 8,2): Ausgewählte Korrespondenzen mit dem Piper Verlag und Klaus Piper 1942-1968 — Basel: Schwabe Verlag, 2020

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Karl Jaspers - Piper Verlag (1960)

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tive, fördernde Ferment abgeben würde für die Verwirklichung eines allmählich
zusammenwachsenden Europas.
Wenn ich bemerkte, daß die Menschen, die die Wiedervereinigung fordern, zum
wenigsten an die reale Wiederholung des vorübergehend verwirklichten preussisch-
deutschen Einheitsstaates im Auge haben, dann muß ich, nicht einschränkend, aber
sozusagen vorsichtshalber dazu sagen: die merkwürdige Spaltung in der selbstver-
ständlichen Teilnahme am neuzeitlichen, technologischen, nämlich übernationalen
Dasein bei einem konstitutionell immer noch mystischen politischen Denken - diese
Spaltung besteht in vielen, leider, wie Beobachtungen zeigen, sehr vielen Köpfen.
So unterhielten wir uns erst neulich mit dem Mann einer Bekannten meiner Frau,
[einem] früheren Berufsoffizier, aus rheinisch-bürgerlich-kaufmännischer Familie
stammend, sicher kein Nazi gewesen; aber dieser Mann erklärte doch entschieden,
man dürfe als Deutscher nicht auf die Wiedervereinigung verzichten, weil man dann
den »Reichsgedanken« preisgeben würde. Am Reichsgedanken müsse man aber un-
bedingt festhalten. Wenn also auch ein Nationalstaat im engeren Sinn wohl nicht
mehr als absoluter Wert in Anspruch genommen wird (so noch wie in den zwanzi-
ger Jahren allgemein vom rechtsstehenden Bürgertum), dann ist der idealistische
Glanz, der hochgenommene sittliche Wert eines deutschen »Reichs« keineswegs er-
loschen.
Wenn ich also vorschlagen möchte, lieber Herr Professor, daß Sie vielleicht den
Terminus »Bismarck-Staat« (der eigentlich ein gebräuchlicher Terminus gar nicht ist)
in der endgültigen Textfassung etwas zurücknehmen zugunsten des Begriffs Deut-
scher Einheitsstaat, dann wäre mir bei der Kritik am Wunsch nach einem solchen
Einheitsstaat wichtig: Die Katastrophen der jüngeren deutschen Geschichte waren
doch Folgen der zentrifugalen Wirkung, die vom deutschen Volk und Staat ausge-
gangen waren. Sowohl der wilhelminische wie der Hitler-Staat haben schließlich eine
Welt von Feinden auf die Beine gebracht, die sich darin einig waren, dies Deutsch-
land zu vernichten. Jetzt, in der Situation der ersten und letzten deutschen Chance,
wäre es eine tödliche Gefahr, nochmals, zum dritten Mal, einen Weg zu beschreiten,
der zwangsläufig wiederum die zentrifugale, die Umwelt in Abwehr und Feindschaft
zusammenschließende Wirkung ausübte. Jetzt, für die Gewinnung unserer Zukunft
kann es vielmehr einzig darauf ankommen, endlich einmal eine zentripetale Wir-
kung, von Deutschland aus ausgehend, zu erzeugen. Dies ist aber nur möglich, wenn
Deutschland eine Stätte der politischen Vernunft, des entschiedenen Maßhaltens, der
unbedingten Treue zu Europa und zur westlichen Welt ist.
Ich hatte kürzlich im Verlag Besuch von einer jungen Dame, Slawistin, die einige
Wochen mit einer internationalen Studentengruppe in Russland war, hauptsäch-
lich in Moskau und Leningrad. Diese Dame hatte den Vorzug, daß sie perfekt rus-
sisch spricht und sich deshalb mit verschiedenen Menschen unterhalten konnte, was
 
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