Karl Jaspers - Piper Verlag (1962)
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der Oder-Neisse-Linie, auf Berlin als Hauptstadt eines wiederkommenden Deutsch-
land. Ein selbständiges Westberlin in totaler Abhängigkeit von Amerika, ohne eigene
Aussenpolitik, ohne politische Einheit mit der Bundesrepublika, mit vollkommener
innerer Freiheit, ein Gebilde, das geschichtlich noch nie da war und für das es keine
Analogie gibt, könnte heute in dieser Weltlage zwar nicht Reichshauptstadt, aber eine
merkwürdige Weltstadt werden. Man kann sich einen Entwurf der Möglichkeiten ei-
nes solchen Berlins machen, in dem es geistige und wirtschaftliche und innenpoliti-
sche Freiheit gibt, aber keine Wehrpflicht. Man könnte grossartige und verderbliche
Möglichkeiten sehen, aber doch eine unerhörte Chance freier Menschen in dem heu-
tigen politischen Weltzustand als mögliche Wegbereiter für eine Zukunft, falls die
Berliner die Chance zu ergreifen fähig sind. Wenn nicht, dann hat ihr spezifisch Berli-
ner Dasein keinen Sinn und ihnen wäre nach Menschenrecht geholfen, wenn sie alle
nach freier Wahl mit ihrer beweglichen Habe in den Westen, in die Bundesrepublik
und andere Länder auswandern können. Doch das ist so schnell hingeschrieben, zu
viel für einen Brief, viel zu wenig für die Sache.
Unsere Weihnachtswünsche schrieb ich Ihnen vor dem Fest, die Neujahrswün-
sche folgen verspätet. Möge es Ihnen und Ihrer Familie und Ihrem Verlag gut weiter-
gehen. Es sieht alles danach aus, wenn nicht das politische Verhängnis einbricht. Ich
erwarte es nicht, halte es trotz allem für unwahrscheinlich, aber es wäre unerlaubt,
diese Möglichkeit auch nur einen Tag zu vergessen. Die Maßstäbe rücken sich zurecht,
wenn man daran denkt.
Sie fragen nach meinem Buche »Der philosophische Glaube angesichts der Offen-
barung«. Wir besprachen mündlich, dass das Buch im Herbst noch erscheinen könne,
wenn das Manuskript Ende Mai in Ihren Händen sei. Dass dies geschehe, hoffe ich
heute sehr, und nicht ganz unbegründet. Zu Ostern werde ich nicht fertig. Ich arbeite
nun kontinuierlich und ausschliesslich an diesem Manuskript. Unterbrechungen, die
ich allzu häufig eingegangen bin, lasse ich nicht mehr zu. Ich verweigere alles bis zur
Unhöflichkeit. Auch der politische Aufsatz für die evtl. Ausgabe in dem DTV soll erst
geschrieben werden, wenn das Manuskript dieses Buches fertig ist.1324 Ich weiss nun
aus Erfahrung, wie jedes »Zwischenhinein« stört. Die innere Landschaft bei einem
immerhin so grossen Buch muss in sich allein durch die Wochen gegenwärtig bleiben
und heller und deutlicher und einfacher werden.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn ich von Ihnen noch einmal hören könnte, dass
die Ablieferung Ende Mai das Erscheinen im Herbst (Oktober) ermöglichen würde.
Den Mai-Termin selber kann ich Ihnen heute noch nicht absolut endgültig sagen.
a ohne politische Einheit mit der Bundesrepublik von Jaspers unterstrichen und mit einem Fragezeichen
versehen
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der Oder-Neisse-Linie, auf Berlin als Hauptstadt eines wiederkommenden Deutsch-
land. Ein selbständiges Westberlin in totaler Abhängigkeit von Amerika, ohne eigene
Aussenpolitik, ohne politische Einheit mit der Bundesrepublika, mit vollkommener
innerer Freiheit, ein Gebilde, das geschichtlich noch nie da war und für das es keine
Analogie gibt, könnte heute in dieser Weltlage zwar nicht Reichshauptstadt, aber eine
merkwürdige Weltstadt werden. Man kann sich einen Entwurf der Möglichkeiten ei-
nes solchen Berlins machen, in dem es geistige und wirtschaftliche und innenpoliti-
sche Freiheit gibt, aber keine Wehrpflicht. Man könnte grossartige und verderbliche
Möglichkeiten sehen, aber doch eine unerhörte Chance freier Menschen in dem heu-
tigen politischen Weltzustand als mögliche Wegbereiter für eine Zukunft, falls die
Berliner die Chance zu ergreifen fähig sind. Wenn nicht, dann hat ihr spezifisch Berli-
ner Dasein keinen Sinn und ihnen wäre nach Menschenrecht geholfen, wenn sie alle
nach freier Wahl mit ihrer beweglichen Habe in den Westen, in die Bundesrepublik
und andere Länder auswandern können. Doch das ist so schnell hingeschrieben, zu
viel für einen Brief, viel zu wenig für die Sache.
Unsere Weihnachtswünsche schrieb ich Ihnen vor dem Fest, die Neujahrswün-
sche folgen verspätet. Möge es Ihnen und Ihrer Familie und Ihrem Verlag gut weiter-
gehen. Es sieht alles danach aus, wenn nicht das politische Verhängnis einbricht. Ich
erwarte es nicht, halte es trotz allem für unwahrscheinlich, aber es wäre unerlaubt,
diese Möglichkeit auch nur einen Tag zu vergessen. Die Maßstäbe rücken sich zurecht,
wenn man daran denkt.
Sie fragen nach meinem Buche »Der philosophische Glaube angesichts der Offen-
barung«. Wir besprachen mündlich, dass das Buch im Herbst noch erscheinen könne,
wenn das Manuskript Ende Mai in Ihren Händen sei. Dass dies geschehe, hoffe ich
heute sehr, und nicht ganz unbegründet. Zu Ostern werde ich nicht fertig. Ich arbeite
nun kontinuierlich und ausschliesslich an diesem Manuskript. Unterbrechungen, die
ich allzu häufig eingegangen bin, lasse ich nicht mehr zu. Ich verweigere alles bis zur
Unhöflichkeit. Auch der politische Aufsatz für die evtl. Ausgabe in dem DTV soll erst
geschrieben werden, wenn das Manuskript dieses Buches fertig ist.1324 Ich weiss nun
aus Erfahrung, wie jedes »Zwischenhinein« stört. Die innere Landschaft bei einem
immerhin so grossen Buch muss in sich allein durch die Wochen gegenwärtig bleiben
und heller und deutlicher und einfacher werden.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn ich von Ihnen noch einmal hören könnte, dass
die Ablieferung Ende Mai das Erscheinen im Herbst (Oktober) ermöglichen würde.
Den Mai-Termin selber kann ich Ihnen heute noch nicht absolut endgültig sagen.
a ohne politische Einheit mit der Bundesrepublik von Jaspers unterstrichen und mit einem Fragezeichen
versehen