Karl Jaspers - Piper Verlag (1966)
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nahm uns in das Dorf Arquä Petrarca im Auto mit. Petrarca lebte dort während seiner
letzten 14 Lebensjahre in einem bezaubernd intimen Haus.174° Ich lese eben (Fischer-
Büch.) in seinen heute ganz unverwelkt-persönlich wirkenden Briefen.1741 Welche poli-
tischen Wirren damals und wie griffen sie überall ins Leben des Einzelnen ein!
Betrübt war ich, lieber Herr Professor, aus Ihrem Brief zu hören, dass Sie für das
neue Manuskript keine genügende Arbeitshilfe haben. Konnten Sie für die vorzügli-
che Kraft, die im Sanatorium ist, inzwischen Ersatz beschaffen? Von Herrn Dr. Röss-
ner, mit dem ich gestern telefonierte, erfuhr ich, dass Sie mit der Fertigstellung des
Manuskripts bis Weihnachten nicht sicher rechnen. Wir dürfen ja gewiss mit einer
Disposition des Inhalts bis Anfang-Mitte November rechnen, sodass danach die Vor-
ankündigung für uns. Information 67/I formuliert werden kann.
Die Rezension v. F. R. Allemann im »Merkur«, Okt.-Heft, habe ich eben gelesen. Ein
Stichwort ist A.'s Bedenken gegenüber dem »polemischen« Element in der »Bundes-
republik«.1742 Der Irrtum wäre aber, zu meinen, dass (positive) Polemik als notwendig-
akzentuierende Betonung die Wahrheit verletzt. Wenn Allemann am Schluss seiner
Besprechung als Zentralpunkt seiner Bedenken herausstellt, dass Ihnen - von einer
Verabsolutierung, einem »Perfektionismus« der Freiheit verführt - der Sinn für den
fundamentalen Kompromiss-Charakter der Politik mangle,1743 dann muss man ihm
wohl entgegenhalten: an mangelnden Kompromissen (der »heruntergekommene«
Kompromiss ist das Fortwursteln) wird die deutsche Politik nicht scheitern, wohl aber
an der mangelnden Bereitschaft (Fähigkeit), halb oder ganz vorhandene Einsichten,
bereitliegende Erkenntnisse im politischen Handeln zu realisieren, - richtiges poli-
tisches Denken in richtigen politischen Willen zu verwandeln. Einfach gesagt: In
bestimmten Situationen bedarf die Wahrheit der Polemik.
Für eine der gefährlichsten Entwicklungen gegenwärtig in der Bundesrepublik
halte ich den Verfall der Funktion des Parlaments. Alle sündigen - bei CDU/FDP u.
SPD. Wichtige politische Konzeptionen, Pläne werden nicht dort, wo sie hingehö-
ren - im Parlament - vorgetragen und dort diskutiert, sondern im Rundfunk, bei einer
Verbandstagung oder in New York (Barzel).1744 Es ist ein Stil, der in einer gereiften
Demokratie unmöglich wäre. Ich vermute, dass Sie in Ihrer »Antwort« auf das Schei-
tern der deutschen Politik in der Weimarer Republik zu sprechen kommen werden.1745
Ich lese in dem vorzüglichen Bericht [von] Helmut Heiber »Die Republik von Wei-
mar«, Bd. 3 der dtv-Weltgesch. d. 20.Jahrhunderts.1746 Der tödliche Krankheitsprozess
des Parlaments damals sollte ein Menetekel sein. Der entscheidende Unterschied ist:
damals wurde der Staat vom »nationalen« Bürgertum abgelehnt; heute gibt es keine
herrschende Mentalität, die dem bestehenden Staat feindlich und aggressiv gegen-
übersteht (das ist günstiger als Chance).
Ich wünsche Ihnen sehr, dass Sie die neue Arbeit ohne zu grosse körperliche Be-
schwernisse und mit der nötigen technischen Hilfe zuendeführen können. Der Piper-
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nahm uns in das Dorf Arquä Petrarca im Auto mit. Petrarca lebte dort während seiner
letzten 14 Lebensjahre in einem bezaubernd intimen Haus.174° Ich lese eben (Fischer-
Büch.) in seinen heute ganz unverwelkt-persönlich wirkenden Briefen.1741 Welche poli-
tischen Wirren damals und wie griffen sie überall ins Leben des Einzelnen ein!
Betrübt war ich, lieber Herr Professor, aus Ihrem Brief zu hören, dass Sie für das
neue Manuskript keine genügende Arbeitshilfe haben. Konnten Sie für die vorzügli-
che Kraft, die im Sanatorium ist, inzwischen Ersatz beschaffen? Von Herrn Dr. Röss-
ner, mit dem ich gestern telefonierte, erfuhr ich, dass Sie mit der Fertigstellung des
Manuskripts bis Weihnachten nicht sicher rechnen. Wir dürfen ja gewiss mit einer
Disposition des Inhalts bis Anfang-Mitte November rechnen, sodass danach die Vor-
ankündigung für uns. Information 67/I formuliert werden kann.
Die Rezension v. F. R. Allemann im »Merkur«, Okt.-Heft, habe ich eben gelesen. Ein
Stichwort ist A.'s Bedenken gegenüber dem »polemischen« Element in der »Bundes-
republik«.1742 Der Irrtum wäre aber, zu meinen, dass (positive) Polemik als notwendig-
akzentuierende Betonung die Wahrheit verletzt. Wenn Allemann am Schluss seiner
Besprechung als Zentralpunkt seiner Bedenken herausstellt, dass Ihnen - von einer
Verabsolutierung, einem »Perfektionismus« der Freiheit verführt - der Sinn für den
fundamentalen Kompromiss-Charakter der Politik mangle,1743 dann muss man ihm
wohl entgegenhalten: an mangelnden Kompromissen (der »heruntergekommene«
Kompromiss ist das Fortwursteln) wird die deutsche Politik nicht scheitern, wohl aber
an der mangelnden Bereitschaft (Fähigkeit), halb oder ganz vorhandene Einsichten,
bereitliegende Erkenntnisse im politischen Handeln zu realisieren, - richtiges poli-
tisches Denken in richtigen politischen Willen zu verwandeln. Einfach gesagt: In
bestimmten Situationen bedarf die Wahrheit der Polemik.
Für eine der gefährlichsten Entwicklungen gegenwärtig in der Bundesrepublik
halte ich den Verfall der Funktion des Parlaments. Alle sündigen - bei CDU/FDP u.
SPD. Wichtige politische Konzeptionen, Pläne werden nicht dort, wo sie hingehö-
ren - im Parlament - vorgetragen und dort diskutiert, sondern im Rundfunk, bei einer
Verbandstagung oder in New York (Barzel).1744 Es ist ein Stil, der in einer gereiften
Demokratie unmöglich wäre. Ich vermute, dass Sie in Ihrer »Antwort« auf das Schei-
tern der deutschen Politik in der Weimarer Republik zu sprechen kommen werden.1745
Ich lese in dem vorzüglichen Bericht [von] Helmut Heiber »Die Republik von Wei-
mar«, Bd. 3 der dtv-Weltgesch. d. 20.Jahrhunderts.1746 Der tödliche Krankheitsprozess
des Parlaments damals sollte ein Menetekel sein. Der entscheidende Unterschied ist:
damals wurde der Staat vom »nationalen« Bürgertum abgelehnt; heute gibt es keine
herrschende Mentalität, die dem bestehenden Staat feindlich und aggressiv gegen-
übersteht (das ist günstiger als Chance).
Ich wünsche Ihnen sehr, dass Sie die neue Arbeit ohne zu grosse körperliche Be-
schwernisse und mit der nötigen technischen Hilfe zuendeführen können. Der Piper-