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Johann Martin Thesz
Der Kanon der in der Schule gelesenen Autoren blieb trotz der Christianisierung
des Römischen Reiches bis ans Ende der Spätantike weitgehend konstant. Versuche,
ihn durch entsprechende christliche Werke zu ersetzen, hat es zwar vereinzelt gege-
ben, doch war ihnen keine nachhaltige Wirkung beschieden.30 Der höhere Unterricht
basierte also auch noch am Anfang des 6. Jahrhunderts, als Malalas seine Bildung
erhielt, auf Homer sowie auf der klassischen Dichtung und Prosa. Sofern Malalas eine
entsprechende Bildung genossen hat, dürfte man bei ihm dementsprechend eine nicht
geringe Kenntnis der kanonischen Autoren und Werke voraussetzen. Ob dies der Fall
ist, soll im Folgenden untersucht werden.
Näher betrachtet werden soll in diesem Zusammenhang Malalas’ Rezeption der
Ilias und der Odyssee, die im Zentrum des antiken Schulkanons standen.31 Es zeigt
sich, dass Malalas in denjenigen Abschnitten seiner Chronik, die den Trojanischen
Krieg und die Irrfahrten des Odysseus behandeln, nicht den homerischen Gedich-
ten folgt. Besonders stark weicht er V 20 von Homer ab. Malalas erwähnt hier zu-
nächst den Aufenthalt des Odysseus bei Kalypso, der im fünften Buch der Odyssee
beschrieben wird. Dort verlässt Odysseus, der bereits seine gesamte Flotte verloren
hat, Kalypso mit einem selbst gebauten Floß, das jedoch durch ein Unwetter zerstört
wird, und erreicht schwimmend die Insel der Phäaken, die ihn schließlich zurück nach
Ithaka geleiten. Ganz anders entwickelt sich die Erzählung bei Malalas: Odysseus hat
zu dem Zeitpunkt, als er Kalypso verlässt, noch einen Teil seiner Flotte bei sich. Erst
im Folgenden verliert er diese durch die Charybdis. Odysseus selbst wird von phö-
nizischen Seeleuten gerettet und nach Kreta gebracht, wo ihn Idomeneus freundlich
empfängt und dann anschließend mit einem Geleit von zwei Schiffen in seine Heimat
Ithaka schickt. Die Erzählung des Malalas basiert hier seinen Angaben zufolge auf
Diktys von Kreta, der von Odysseus dessen Erzählungen gehört habe und daher nach
Malalas offenbar als zuverlässiger Gewährsmann gelten darf. Einen Hinweis darauf,
dass er von der Darstellung in der Odyssee abweicht, bietet Malalas seinem Leser hier
nicht, was dafür spricht, dass er mit deren Handlungsablauf nicht vertraut war.
Am Ende seiner Darstellung des Trojanischen Krieges und der Heimkehr der
griechischen Helden nennt Malalas als weitere ,primäre4 Quelle der bei Homer dar-
gestellten Geschehnisse das Prosabuch des für uns nur noch in Umrissen greifbaren
Sisyphos von Kos, den er für einen Augenzeugen jener Ereignisse hält (V 29):
ταϋτα δε Σίσυφος ό Κωος συνεγράψατο έν τω ποΛέμω υπάρχων σύν
τω Τεύκρω· ήντινα συγγραφήν εύρηκώς Όμηρος ό ποιητής τήν ΊΛιάδα
έξέθετο, και ΒεργίΛΛιος τά Λοιπά, άτινα καί έν ταΐς τοϋ Δίκτυος έμφέρεται
ραψωδίαις, οπερ πόνημα μετά ποΛΛά έτη Όμήρου καί ΒεργιΛΛίου ηύρέθη
έπί ΚΛαυδίου Νέρωνος βασιΛέως έν <κασσιτερίνω> κιβωτίω.
30 Vgl. Marrou (1957)’ S- 47ο-472 zum geringen christlichen Einfluss auf die Schulen.
31 Zur zentralen Stellung Homers in der antiken Bildung vgl. Morgan (1998), S. 71,105 ff.; Hock (2001);
Cribiore (2001), S. 194-197.
Johann Martin Thesz
Der Kanon der in der Schule gelesenen Autoren blieb trotz der Christianisierung
des Römischen Reiches bis ans Ende der Spätantike weitgehend konstant. Versuche,
ihn durch entsprechende christliche Werke zu ersetzen, hat es zwar vereinzelt gege-
ben, doch war ihnen keine nachhaltige Wirkung beschieden.30 Der höhere Unterricht
basierte also auch noch am Anfang des 6. Jahrhunderts, als Malalas seine Bildung
erhielt, auf Homer sowie auf der klassischen Dichtung und Prosa. Sofern Malalas eine
entsprechende Bildung genossen hat, dürfte man bei ihm dementsprechend eine nicht
geringe Kenntnis der kanonischen Autoren und Werke voraussetzen. Ob dies der Fall
ist, soll im Folgenden untersucht werden.
Näher betrachtet werden soll in diesem Zusammenhang Malalas’ Rezeption der
Ilias und der Odyssee, die im Zentrum des antiken Schulkanons standen.31 Es zeigt
sich, dass Malalas in denjenigen Abschnitten seiner Chronik, die den Trojanischen
Krieg und die Irrfahrten des Odysseus behandeln, nicht den homerischen Gedich-
ten folgt. Besonders stark weicht er V 20 von Homer ab. Malalas erwähnt hier zu-
nächst den Aufenthalt des Odysseus bei Kalypso, der im fünften Buch der Odyssee
beschrieben wird. Dort verlässt Odysseus, der bereits seine gesamte Flotte verloren
hat, Kalypso mit einem selbst gebauten Floß, das jedoch durch ein Unwetter zerstört
wird, und erreicht schwimmend die Insel der Phäaken, die ihn schließlich zurück nach
Ithaka geleiten. Ganz anders entwickelt sich die Erzählung bei Malalas: Odysseus hat
zu dem Zeitpunkt, als er Kalypso verlässt, noch einen Teil seiner Flotte bei sich. Erst
im Folgenden verliert er diese durch die Charybdis. Odysseus selbst wird von phö-
nizischen Seeleuten gerettet und nach Kreta gebracht, wo ihn Idomeneus freundlich
empfängt und dann anschließend mit einem Geleit von zwei Schiffen in seine Heimat
Ithaka schickt. Die Erzählung des Malalas basiert hier seinen Angaben zufolge auf
Diktys von Kreta, der von Odysseus dessen Erzählungen gehört habe und daher nach
Malalas offenbar als zuverlässiger Gewährsmann gelten darf. Einen Hinweis darauf,
dass er von der Darstellung in der Odyssee abweicht, bietet Malalas seinem Leser hier
nicht, was dafür spricht, dass er mit deren Handlungsablauf nicht vertraut war.
Am Ende seiner Darstellung des Trojanischen Krieges und der Heimkehr der
griechischen Helden nennt Malalas als weitere ,primäre4 Quelle der bei Homer dar-
gestellten Geschehnisse das Prosabuch des für uns nur noch in Umrissen greifbaren
Sisyphos von Kos, den er für einen Augenzeugen jener Ereignisse hält (V 29):
ταϋτα δε Σίσυφος ό Κωος συνεγράψατο έν τω ποΛέμω υπάρχων σύν
τω Τεύκρω· ήντινα συγγραφήν εύρηκώς Όμηρος ό ποιητής τήν ΊΛιάδα
έξέθετο, και ΒεργίΛΛιος τά Λοιπά, άτινα καί έν ταΐς τοϋ Δίκτυος έμφέρεται
ραψωδίαις, οπερ πόνημα μετά ποΛΛά έτη Όμήρου καί ΒεργιΛΛίου ηύρέθη
έπί ΚΛαυδίου Νέρωνος βασιΛέως έν <κασσιτερίνω> κιβωτίω.
30 Vgl. Marrou (1957)’ S- 47ο-472 zum geringen christlichen Einfluss auf die Schulen.
31 Zur zentralen Stellung Homers in der antiken Bildung vgl. Morgan (1998), S. 71,105 ff.; Hock (2001);
Cribiore (2001), S. 194-197.