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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0114
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Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 349-350 87

Den ersten dieser Schlussverse zitiert N. wörtlich und mit expliziter Nennung
Hölderlins in einem nachgelassenen Notat (NL 1873, 29 [202], KSA 7, 711).
349, 29-32 Ich schildere nichts als den ersten gleichsam physiologischen Ein-
druck, welchen Schopenhauer bei mir hervorbrachte, jenes zauberartige Ausströ-
men der innersten Kraft eines Naturgewächses auf ein anderes] Eine ähnliche
Einschätzung im Hinblick auf die Natur des Philosophen formuliert bereits
Schopenhauer in der Schlusspartie seiner Schrift Ueber die Universitäts-Philo-
sophie, an die N. hier anzuschließen scheint. Allerdings betont er die Relevanz
der Pädagogik mit größerem Nachdruck als Schopenhauer, der die „Natur" im
Sinne der „angeborenen Talente" für erheblich wichtiger hält als die „Erzie-
hung und Bildung" (PP I, Hü 209). - Zugleich antizipiert N. in der Darstellung
einer quasi-physiologischen Wirkung schon Aspekte der späteren Schaffens-
phase, in der er auch für den Umgang mit philosophischen Themen die Aus-
richtung an Prinzipien naturwissenschaftlichen Experimentierens postuliert.
Zu N.s Experimental-Philosophie vgl. Volker Gerhardt 1986, 45-61.
Den „gleichsam physiologischen Eindruck" reflektiert N. anschließend
(349, 33 - 350, 1) methodisch nach dem Modell einer naturwissenschaftlichen
Faktorenanalyse: Die sympathetische Anziehungskraft Schopenhauers auf sich
selbst analysiert N., indem er zwischen drei Komponenten differenziert. Dabei
nähert er sich in dreifacher Hinsicht naturwissenschaftlicher Begrifflichkeit an:
erstens indem er von seiner „gleichsam physiologischen" Wirkung spricht,
zweitens dadurch, dass er diesen „Eindruck nachträglich [zu] zerlege[n]"
sucht, und drittens insofern, als er ihn (wie ein Chemiker) „aus drei Elementen
gemischt" findet (349, 33-34). Demgemäß beschreibt N. Schopenhauers „Be-
ständigkeit", die an das stoische Ideal der constantia erinnert, als eine imma-
nente Notwendigkeit, die mit der Gravitation, einem physikalischen Prinzip,
vergleichbar sei: nämlich „wie durch ein Gesetz der Schwere gezwungen" (350,
7-8). Und Schopenhauers „Kraft" erscheint ihm als „aufwärts" strebend „wie
eine Flamme bei Windstille" (350, 4-5).
349, 26-28 „Was ist doch ein Lebendiges für ein herrliches köstliches Ding! wie
abgemessen zu seinem Zustande, wie wahr, wie seiend!"] N. zitiert an dieser
Stelle nicht ganz exakt aus Goethes Tagebuch der italienischen Reise IV, Vene-
dig. Am 9. Oktober 1786 schreibt Goethe hier über die „Wirtschaft der Seeschne-
cken, Patellen und Taschenkrebse" am Meer: „Was ist doch ein Lebendiges für
ein köstliches, herrliches Ding! Wie abgemessen zu seinem Zustande, wie
wahr, wie seiend!" (Goethe: FA, Bd. 15/1, 99).
350, 7-8 wie durch ein Gesetz der Schwere gezwungen] Auf das Prinzip der
Gravitation nimmt N. hier Bezug, indem er die intuitive Sicherheit, mit der
Schopenhauer „seinen Weg" fand, mit dem Gesetz der Schwerkraft analogi-
 
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