Stellenkommentar UB III SE 8, KSA 1, S. 424-425 283
nicht zu sagen getraue, daß er ebensoviel zu bauen als zu zerstören vermag"
(vgl. den Quellennachweis von Antonio und Jordi Morillas-Esteban 2011b, 305).
425, 1 Nathan den Weisen] Nathan der Weise ist der souverän im Sinne aufklä-
rerischer Prinzipien agierende jüdische Protagonist in Lessings Drama Nathan
der Weise (1779), das den Anspruch auf interkulturelle Toleranz und Gleichwer-
tigkeit der Weltreligionen ins Zentrum stellt. In UB I DS spielt N. auf die religi-
onsphilosophische Debatte um die sogenannten ,Reimarus-Fragmente' an, in
der sich Lessing durch seine Schriften gegen den religiösen Dogmatismus or-
thodoxer Theologen sehr engagierte (vgl. KSA 1, 183, 14 - 184, 5). Zur Fortset-
zung der religionsphilosophischen Kontroverse, für die Lessing sein Drama
Nathan der Weise verfasste, vgl. in NK 1/2 die Hintergrundinformationen in
NK 183, 14 - 184, 5.
425, 3-4 Geschwätz über unsere heilige deutsche Musik] Vermutlich spielt N.
hier auf die Musik Richard Wagners an, den er in UB IV WB als unzeitgemäßen
Musiker würdigt.
425, 7-17 ausserhalb der Universitäten ein höheres Tribunal [...] so wie Scho-
penhauer lebte, als der Richter der ihn umgebenden sogenannten Kultur] Im anti-
ken Rom wurde mit ,Tribunal' der erhöhte Platz bezeichnet, auf dem der Prae-
tor als oberster Beamter der Justiz Recht sprach. N. verwendet den Begriff
,Tribunal' im Sinne von Gerichtshof und verbindet ihn implizit mit seinem Pos-
tulat der ,Unzeitgemäßheit'. Zu der für N.s Frühwerk generell charakteristi-
schen Vorstellung des Gerichts und des Richters vgl. NK 410, 22-25. N. sieht
einen philosophisch maskierten Journalismus (424, 33-34) in die akademi-
schen Institutionen einziehen und entdeckt Indizien dafür, dass „der Universi-
tätsgeist anfängt, sich mit dem Zeitgeiste zu verwechseln" (425, 6-7). Laut N.
soll die Philosophie nach ihrem Ausscheiden aus dem Universitätsbetrieb, von
allen Depravationen durch staatliche Indienstnahme befreit, nach Schopen-
hauerschem Vorbild die Aufgabe einer „vom Zeitgeiste" unabhängigen Kultur-
richterin übernehmen (425, 15-17).
Vor N. setzt bereits Schopenhauer die juristische Metapher „Tribunal" mit
zeitkritischen Implikationen ein. So entwirft er in seiner Schrift Ueber die Uni-
versitäts-Philosophie ein Zukunftsszenario: vor „jenem Richterstuhle, wo wir
uns wiedersehn, zum Tribunal der Nachwelt, welches [...] auch eine Schand-
glocke führt, die sogar über ganze Zeitalter geläutet werden kann" (PP I,
Hü 155). Auch in seinem Hauptwerk weist Schopenhauer auf den „Richter-
stuhl" der „Nachwelt" hin (WWV I, § 49, Hü 279). Derartige Vorstellungen von
einer richterlichen Instanz, die Rechtfertigung einfordern und Verdikte aus-
sprechen kann, übernimmt N. von Schopenhauer, um sie dann ebenfalls aus
dem Bereich der Jurisprudenz in den weiteren Horizont der Kulturgeschichte
nicht zu sagen getraue, daß er ebensoviel zu bauen als zu zerstören vermag"
(vgl. den Quellennachweis von Antonio und Jordi Morillas-Esteban 2011b, 305).
425, 1 Nathan den Weisen] Nathan der Weise ist der souverän im Sinne aufklä-
rerischer Prinzipien agierende jüdische Protagonist in Lessings Drama Nathan
der Weise (1779), das den Anspruch auf interkulturelle Toleranz und Gleichwer-
tigkeit der Weltreligionen ins Zentrum stellt. In UB I DS spielt N. auf die religi-
onsphilosophische Debatte um die sogenannten ,Reimarus-Fragmente' an, in
der sich Lessing durch seine Schriften gegen den religiösen Dogmatismus or-
thodoxer Theologen sehr engagierte (vgl. KSA 1, 183, 14 - 184, 5). Zur Fortset-
zung der religionsphilosophischen Kontroverse, für die Lessing sein Drama
Nathan der Weise verfasste, vgl. in NK 1/2 die Hintergrundinformationen in
NK 183, 14 - 184, 5.
425, 3-4 Geschwätz über unsere heilige deutsche Musik] Vermutlich spielt N.
hier auf die Musik Richard Wagners an, den er in UB IV WB als unzeitgemäßen
Musiker würdigt.
425, 7-17 ausserhalb der Universitäten ein höheres Tribunal [...] so wie Scho-
penhauer lebte, als der Richter der ihn umgebenden sogenannten Kultur] Im anti-
ken Rom wurde mit ,Tribunal' der erhöhte Platz bezeichnet, auf dem der Prae-
tor als oberster Beamter der Justiz Recht sprach. N. verwendet den Begriff
,Tribunal' im Sinne von Gerichtshof und verbindet ihn implizit mit seinem Pos-
tulat der ,Unzeitgemäßheit'. Zu der für N.s Frühwerk generell charakteristi-
schen Vorstellung des Gerichts und des Richters vgl. NK 410, 22-25. N. sieht
einen philosophisch maskierten Journalismus (424, 33-34) in die akademi-
schen Institutionen einziehen und entdeckt Indizien dafür, dass „der Universi-
tätsgeist anfängt, sich mit dem Zeitgeiste zu verwechseln" (425, 6-7). Laut N.
soll die Philosophie nach ihrem Ausscheiden aus dem Universitätsbetrieb, von
allen Depravationen durch staatliche Indienstnahme befreit, nach Schopen-
hauerschem Vorbild die Aufgabe einer „vom Zeitgeiste" unabhängigen Kultur-
richterin übernehmen (425, 15-17).
Vor N. setzt bereits Schopenhauer die juristische Metapher „Tribunal" mit
zeitkritischen Implikationen ein. So entwirft er in seiner Schrift Ueber die Uni-
versitäts-Philosophie ein Zukunftsszenario: vor „jenem Richterstuhle, wo wir
uns wiedersehn, zum Tribunal der Nachwelt, welches [...] auch eine Schand-
glocke führt, die sogar über ganze Zeitalter geläutet werden kann" (PP I,
Hü 155). Auch in seinem Hauptwerk weist Schopenhauer auf den „Richter-
stuhl" der „Nachwelt" hin (WWV I, § 49, Hü 279). Derartige Vorstellungen von
einer richterlichen Instanz, die Rechtfertigung einfordern und Verdikte aus-
sprechen kann, übernimmt N. von Schopenhauer, um sie dann ebenfalls aus
dem Bereich der Jurisprudenz in den weiteren Horizont der Kulturgeschichte