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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0447
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420 Richard Wagner in Bayreuth

Gefühlsschwunge seiner Musik wegreißen lassen, von diesem Schopenhaueri-
schen Tonmeere, dessen geheimsten Wellenschlag ich mit empfinde, so daß
mein Anhören Wagnerischer Musik eine jubelnde Intuition, ja ein staunendes
Sichselbstfinden ist" (KSB 2, Nr. 604, S. 352-353). Zuvor bezeichnet er Richard
Wagner, der selbst ein enthusiastischer Schopenhauer-Anhänger war, am
25. August 1869 in einem Brief an Paul Deussen als „den größten Genius
und größten Menschen dieser Zeit, durchaus incommensurabel!" (KSB 3,
Nr. 24, S. 46). Und bereits in seinem ersten Brief an Richard Wagner vom
22. Mai 1869 apostrophiert N. den ,verehrten Meister' sogar dreimal als „Geni-
us" - wenn auch indirekt (KSB 3, Nr. 4, S. 8). In einem Brief an Cosima von
Bülow erklärt er nach einem seiner Aufenthalte in Tribschen bei Wagner am
19. Juni 1870: „Dies Dasein der Götter im Hause des Genius erweckt jene religiö-
se Stimmung, von der ich berichtete - " (KSB 3, Nr. 81, S. 125). Und in einer
späteren Textpassage von UB IV WB konstatiert N. im Hinblick auf Wagner:
„Kein Künstler irgend welcher Vergangenheit hat eine so merkwürdige Mitgift
von seinem Genius erhalten" (505, 8-9).
Der Begriff ,Genius', der mitunter als Synonym zu ,Genie' verwendet wird,
steht für die individuellen Fähigkeiten und das schöpferische Potential eines
Menschen. Eigentlich bedeutet ,Genius' Erzeuger. In der römischen Mythologie
war der Genius, der zu den niederen Gottheiten zählte und geflügelt dargestellt
wurde, ein Schutzgeist: die göttliche Inkarnation des Wesens eines Menschen,
einer sozialen Gemeinschaft oder eines Ortes. Bereits Schopenhauer greift in
der Welt als Wille und Vorstellung I auf die Etymologie des Begriffs ,Genius'
zurück: Er betont, dass die „zur willensfreien Auffassung der Ideen" erforderli-
che Disposition „nothwendig wieder nachläßt und große Zwischenräume hat"
(WWV I, § 36, Hü 222), um dann den etymologischen Zusammenhang herzu-
stellen: Daher sah man „von jeher das Wirken des Genius als eine Inspiration,
ja wie der Name selbst bezeichnet, als das Wirken eines vom Individuo selbst
verschiedenen übermenschlichen Wesens [...], das nur periodisch jenes in Be-
sitz nimmt" (ebd.).
Schopenhauer betrachtet neben der Philosophie vor allem „die Kunst"
als das Terrain „des Genius", und zwar als „bildende Kunst, Poesie oder Mu-
sik": „Sie wiederholt die durch reine Kontemplation aufgefaßten ewigen Ideen,
das Wesentliche und Bleibende aller Erscheinungen der Welt" (WWV I, § 36,
Hü 217). Laut Schopenhauer ist die „Idee" nur „dem ächten Genius" zugänglich
oder dem vorübergehend „bis zur Genialität Begeisterten" (WWV I, § 49,
Hü 277). Die conditio sine qua non von Genialität sieht er in einer vom Willens-
dienst befreiten Tätigkeit des Intellekts, weil man „das rein objektive Wesen
der Dinge, die in ihnen hervortretenden Ideen, nur dann auffassen" kann,
wenn man „kein Interesse an ihnen selbst" hat (WWV II, Kap. 30, Hü 422). In
 
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