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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0033
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18 Morgenröthe

Freundes Paul Ree (vgl. die „Quellen", S. 11-14) und anderen freidenkerischen
Analysen in zeitgenössischen Darstellungen - in dem weit ausstrahlenden
Werk von Ludwig Büchner: Kraft und Stoff waren die moralischen Begriffe
„gut" und „böse" ebenso wie die Rede vom ,Gewissen' von jeder metaphysi-
schen Verankerung losgerissen worden (vgl. NK Μ 20). In vielen Texten der
Morgenröthe beschäftigte er sich aber auch intensiv mit der Ethik der Stoiker
(zu dieser vgl. NK Μ 134), teils zustimmend, teils in kritischer Auseinanderset-
zung, womit er ebenfalls Vorhandenes aufgreift. Ferner spielt die kritische Dis-
tanzierung von Kants kategorischem Imperativ und moralischem Pflichtbegriff
sowie von Schopenhauers Begründung der Moral durch das Mitleid eine be-
deutende Rolle, wie schon für Ree.
Unter ,Moral' verstand N. aber auch in dem weiteren Sinne der von ihm
rezipierten Moralisten, insbesondere der französischen, die „mores": die Ver-
haltensmuster, Sitten und Gewohnheiten der Menschen. Deren Analyse erfor-
dert nicht so sehr eine abstrakt-theoretische als vielmehr eine auf empirische
Beobachtung bauende sowie auf physiologische und psychologische Erklärun-
gen hin arbeitende anthropologische Methode. Wie frühere Moralisten verfährt
N. damit desillusionierend, ernüchternd und oft auch pessimistisch. Bereits in
einem Grundbuch der europäischen Moralistik, in Balthazar Graciäns Handora-
kel, das N. in der 1862 erschienenen Übersetzung Schopenhauers kennenge-
lernt hatte, konnte er eine derartige Form pessimistischer Weltklugheit vorfin-
den. Sie beruht auf dem Programm des „desengano" - der systematisch betrie-
benen Ent-täuschung. Sie sollte zu einer realistischen Weltklugheit führen, die
den trügerischen Schein durchdringt und sich um einer angemessenen Selbst-
behauptung willen ,kritisch' bewährt. Dies ist auch das Ziel von Graciäns Ro-
man Criticön, wie schon der Titel anzeigt. Im Kontext des späten 19. Jahrhun-
derts verband sich diese in einem ganz anderen historischen Zusammenhang -
in der höfischen Sphäre des Absolutismus - entstandene Geisteshaltung mit
der modernen Wendung von einer romantischen und idealistischen Vorstel-
lungswelt, wie sie besonders in Deutschland jahrzehntelang dominiert hatte,
hin zum Realismus und zum Naturalismus. Letztere waren in der Zeit, in der
N. seine Schriften verfasste, mächtige Strömungen, gegen die er sich noch in
seinem Frühwerk vehement gewehrt hatte, die er aber in dieser Phase seines
Schaffens für sich selbst partiell adaptierte. Doch kam es N. letztlich nicht auf
Weltklugheit im Sinne der spanischen und französischen Moralistik an, auch
nicht auf eine grundsätzlich realistische Wende. Zentral war für ihn eher eine
radikalisierte und markant individualistische Version des aufklärerischen Ide-
als des freien Geistes. Sie zeigt Affinitäten zu Tendenzen des zeitgenössischen
Anarchismus (gegen den N. später umso vehementer angeht, so in der Götzen-
Dämmerung, KSA 6, 132, 17-133, 21 und im Antichrist, KSA 6, 244, 32; 245, 3-
 
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