26 Morgenröthe
der gefährlichsten: denn blitzschnell wird's Manier, Handgriff" (KSB 5/KGB 11/
5, Nr. 640, S. 262, Z. 48-51). Im August 1882 teilte er Lou von Salome zehn
Regeln „Zur Lehre vom Stil" mit. Er beginnt mit der Feststellung: „Das Erste,
was noth thut, ist Leben: der Stil soll leben" (KSB 6/KGB III/1, Nr. 288).
Ein Beispiel von vielen bietet der erste Text des fünften Buchs (Μ 423):
„Im grossen Schweigen. - Hier ist das Meer, hier können wir der Stadt
vergessen. Zwar lärmen eben jetzt noch ihre Glocken das Ave Maria [...] -, aber
nur noch einen Augenblick! Jetzt schweigt Alles! [...] Das Sprechen, ja das Den-
ken wird mir verhasst: höre ich denn nicht hinter jedem Worte den Irrthum, die
Einbildung, den Wahngeist lachen? Muss ich nicht meines Mitleidens spotten?
Meines Spottes spotten? - Oh Meer! Oh Abend! Ihr seid schlimme Lehrmeister!
Ihr lehrt den Menschen aufhören, Mensch zu sein! Soll er sich euch hinge-
ben? Soll er werden, wie ihr es jetzt seid, bleich, glänzend, stumm, ungeheuer,
über sich selbst ruhend? Über sich selber erhaben?" (259-260) Zum Erregungs-
stil, wie er sich hier ausprägt, gehören auch die zahlreichen Stilfiguren, die
den Ausdruck intensivieren sollen, aber wenn sie die vorgefertigte Effekt-Scha-
blone übertreiben, ins Maniriert-Serielle und, nach einem Ausdruck Grillpar-
zers, in den „Mietpferdegalopp" geraten. Später kritisierte N. an Wagner das
„espressivo um jeden Preis" (NW, KSA 6, 422, 25), das doch bei ihm selbst
immer mehr zum Stilprinzip wurde. In der hier angeführten Passage verwendet
N. neben erregten Ausrufen und Fragen überreichlich die einfachen rhetori-
schen Figuren der Anapher und der Häufung (accumulatio) und an der am
schärfsten pointierenden Stelle („Meines Spottes spotten") ahmt er eine figura
etymologica aus den biblischen Sprüchen Salomonis nach (Kap. 3, 32 ff.: „Der
Herr [...] wird der Spötter spotten"). N. ist vor allem Rhetoriker. Franz Over-
beck, der Freund, der ihm bis zum Ende beistand und ihn aus vertrautem Um-
gang kannte, stellte später fest: „Nietzsche's Künstlerbegabung ist eine zu be-
schränkt rhetorische gewesen" (Franz Overbeck, Werke und Nachlaß, Bd. 7/2,
S. 31).
Schon früh, längst vor den ,aphoristischen' Schriften, hatte sich N. in die-
sen rhetorisierten Sprachstil eingeübt. Eine erhebliche Anzahl seiner in Basel
gehaltenen Vorlesungen waren Rhetorik-Vorlesungen; er studierte die großen
antiken Rhetoriken (Aristoteles, Cicero, Quintilian) und zog die zeitgenössi-
schen Rhetorik-Lehrbücher heran, so das Werk Hermagoras oder Elemente der
Rhetorile von Richard Volkmann (1865), das er am 14. 2. 1872 aus der Universi-
tätsbibliothek Basel auslieh und für seine eigene Rhetorikvorlesung benutzte.
Zwar setzen Aphorismen seit jeher rhetorische Mittel ein, um Pointen zu erzie-
len, aber eine so massive Häufung ist ihnen fremd. Fremd ist dem Aphorismus
in der spanisch-französischen Tradition vor allem der die eigene Subjektivität
hervorkehrende emphatische Sprechstil. Der Aphorismus älteren Typs, wie ihn
der gefährlichsten: denn blitzschnell wird's Manier, Handgriff" (KSB 5/KGB 11/
5, Nr. 640, S. 262, Z. 48-51). Im August 1882 teilte er Lou von Salome zehn
Regeln „Zur Lehre vom Stil" mit. Er beginnt mit der Feststellung: „Das Erste,
was noth thut, ist Leben: der Stil soll leben" (KSB 6/KGB III/1, Nr. 288).
Ein Beispiel von vielen bietet der erste Text des fünften Buchs (Μ 423):
„Im grossen Schweigen. - Hier ist das Meer, hier können wir der Stadt
vergessen. Zwar lärmen eben jetzt noch ihre Glocken das Ave Maria [...] -, aber
nur noch einen Augenblick! Jetzt schweigt Alles! [...] Das Sprechen, ja das Den-
ken wird mir verhasst: höre ich denn nicht hinter jedem Worte den Irrthum, die
Einbildung, den Wahngeist lachen? Muss ich nicht meines Mitleidens spotten?
Meines Spottes spotten? - Oh Meer! Oh Abend! Ihr seid schlimme Lehrmeister!
Ihr lehrt den Menschen aufhören, Mensch zu sein! Soll er sich euch hinge-
ben? Soll er werden, wie ihr es jetzt seid, bleich, glänzend, stumm, ungeheuer,
über sich selbst ruhend? Über sich selber erhaben?" (259-260) Zum Erregungs-
stil, wie er sich hier ausprägt, gehören auch die zahlreichen Stilfiguren, die
den Ausdruck intensivieren sollen, aber wenn sie die vorgefertigte Effekt-Scha-
blone übertreiben, ins Maniriert-Serielle und, nach einem Ausdruck Grillpar-
zers, in den „Mietpferdegalopp" geraten. Später kritisierte N. an Wagner das
„espressivo um jeden Preis" (NW, KSA 6, 422, 25), das doch bei ihm selbst
immer mehr zum Stilprinzip wurde. In der hier angeführten Passage verwendet
N. neben erregten Ausrufen und Fragen überreichlich die einfachen rhetori-
schen Figuren der Anapher und der Häufung (accumulatio) und an der am
schärfsten pointierenden Stelle („Meines Spottes spotten") ahmt er eine figura
etymologica aus den biblischen Sprüchen Salomonis nach (Kap. 3, 32 ff.: „Der
Herr [...] wird der Spötter spotten"). N. ist vor allem Rhetoriker. Franz Over-
beck, der Freund, der ihm bis zum Ende beistand und ihn aus vertrautem Um-
gang kannte, stellte später fest: „Nietzsche's Künstlerbegabung ist eine zu be-
schränkt rhetorische gewesen" (Franz Overbeck, Werke und Nachlaß, Bd. 7/2,
S. 31).
Schon früh, längst vor den ,aphoristischen' Schriften, hatte sich N. in die-
sen rhetorisierten Sprachstil eingeübt. Eine erhebliche Anzahl seiner in Basel
gehaltenen Vorlesungen waren Rhetorik-Vorlesungen; er studierte die großen
antiken Rhetoriken (Aristoteles, Cicero, Quintilian) und zog die zeitgenössi-
schen Rhetorik-Lehrbücher heran, so das Werk Hermagoras oder Elemente der
Rhetorile von Richard Volkmann (1865), das er am 14. 2. 1872 aus der Universi-
tätsbibliothek Basel auslieh und für seine eigene Rhetorikvorlesung benutzte.
Zwar setzen Aphorismen seit jeher rhetorische Mittel ein, um Pointen zu erzie-
len, aber eine so massive Häufung ist ihnen fremd. Fremd ist dem Aphorismus
in der spanisch-französischen Tradition vor allem der die eigene Subjektivität
hervorkehrende emphatische Sprechstil. Der Aphorismus älteren Typs, wie ihn