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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0050
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Überblickskommentar 35

keit der Sitte" auch in Anlehnung an zeitgenössische ethnologische Werke
traktiert (Μ 9), entfaltet er dieses Argument; und da die Sitte, folglich auch die
von ihr abgeleitete Sittlichkeit immer in der Gemeinschaft der Menschen - N.
sagt: in der „Gemeinde" - etabliert ist, gelangt er von hier aus zu der Frage:
Was geschieht, wenn der „Einzelne" von dieser Sitte abweicht?
Von Anfang an vertritt N. die Idee des unbedingten Vorrangs und Vor-
rechts, ja des Vetorechts des großen Einzelnen: des genialen und originalen
Individuums. Schon deshalb lehnt er die in der Gesellschaft geltenden Normen
ab, auch und vor allem die moralischen. Eine Folge davon ist wiederum, dass
sich das große Individuum als „Freidenker" zum Rebellen und Märtyrer und
zugleich zum hochgradig gefährdeten Außenseiter prädisponiert fühlt, der
schlimme Konsequenzen zu gewärtigen hat. N. erfuhr dies schon in seiner eige-
nen Familie. Am 21. April 1883 schrieb er an Heinrich Köselitz (Peter Gast):
„Bedenken Sie, daß ich aus Kreisen stamme, denen meine ganze Entwicklung
als verwerflich und verworfen erscheint; es war nur eine Consequenz davon,
daß meine Mutter mich voriges Jahr einen ,Schimpf der Familie' und ,eine
Schande für das Grab meines Vaters' nannte. Meine Schwester schrieb mir ein-
mal, wenn sie katholisch wäre, so würde sie in ein Kloster gehn, um den Scha-
den wieder gut zu machen, den ich durch meine Denkweise schaffe [...] Beide
halten mich für einen ,kalten hartherzigen Egoisten'." (KSB 6/KGB III/1,
Nr. 405) Zum Außenseiter dieser Art gehört nicht nur der innere Druck (N.
spricht vom „bösen Gewissen"), den das Ausbrechen aus dem Normengefüge
der allgemein anerkannten, obwohl durchaus nicht immer gelebten Moral
beim großen, originalen Individuum selbst erzeugen kann. Hinzukommt die
Gefahr, den im Namen der Sittlichkeit beschlossenen Sanktionen ausgeliefert
zu werden. Deshalb hinterfragt N. die markantesten Sanktionsformen, am all-
gemeinsten die „Strafe" im Namen des „Gesetzes", und er attackiert die mit
Berufung auf Sitte und Moral stark gewordenen Institutionen, vor allem die
direkt oder indirekt einflussreichste: die Kirche.
N. fand den Typus des aufklärerischen Freidenkers, der schon von den
englischen „free thinkers" (vgl. hierzu NK M 20) und den französischen „libres
penseurs" des 18. Jahrhunderts her bekannt war, vor allem in der zeitgenössi-
schen Freidenker-Bewegung. Ihr schloss er sich an. Seine Vorstellung vom auf-
klärerischen Freigeist verschmilzt sowohl mit der aus der Religionsgeschichte
bekannten Figur des tödlich bedrohten Häretikers wie mit der des promethei-
schen Genies - und Prometheus war schon seinem Namen nach ein „Voraus-
denker"; aber er war auch ein Märtyrer. Da N.s Denken von Beginn an und bis
zum Ende unter dem Bann einer ,Zukunfts-Verheißung' steht, konzipiert er sei-
nen prometheischen Freidenker in dieser Perspektive. „Jeder kleinste Schritt
auf dem Felde des freien Denkens", schreibt er in M 18, „ist von jeher mit
 
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