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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0051
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36 Morgenröthe

geistigen und körperlichen Martern erstritten worden: nicht nur das Vorwärts-
Schreiten, nein! vor Allem das Schreiten, die Bewegung, die Veränderung hat
ihre unzähligen Märtyrer nöthig gehabt [...] Nichts ist theurer erkauft, als das
Wenige von menschlicher Vernunft und vom Gefühle der Freiheit, welches jetzt
unseren Stolz ausmacht. Dieser Stolz aber ist es, dessentwegen es uns jetzt fast
unmöglich wird, mit jenen ungeheuren Zeitstrecken der ,Sittlichkeit der Sitte'
zu empfinden" (31, 20-32, 3).
Eine alte Methode, moralische Normen in Frage zu stellen, geht von der
Einsicht aus, dass ,moralische' Vorstellungen und die entsprechenden Verhal-
tensweisen nicht nur zu verschiedenen Zeiten, sondern auch bei verschiedenen
Völkern jeweils ganz andere sein können. Schon von der griechischen Sophis-
tik her kannte N. das sich daraus ergebende Argument gegen eine Moral, die
Allgemeingültigkeit beansprucht. Und während sich die deutsche Aufklärung
auf ,Moral' eingeschworen hatte - N. greift deshalb im Gefolge Paul Rees, der
freilich immer sachlich analysiert und weder auftrumpft noch verdächtigt,
Kant an -, fand sich diese Form der Moralkritik, die zugleich die Annahme
eines bei allen Menschen gleichen Gewissens in Frage stellte, auch bei radika-
len Vertretern der französischen Aufklärung. Kleist, einer von N.s Lieblings-
autoren, hatte aus seiner intensiven Rezeption der französischen Aufklärung
diese Problematik zugespitzt: „Man sage nicht, daß eine Stimme im Innern uns
heimlich und deutlich anvertraue, was recht sei. Dieselbe Stimme, die dem
Christen zuruft, seinem Feinde zu vergeben, ruft dem Seeländer zu, ihn zu
braten, und mit Andacht ißt er ihn auf" (An Wilhelmine von Zenge, 15. August
1801). Die zeitgenössische Freidenker-Publizistik baut dieses Argumentations-
muster aus und verleiht ihm eine umfassende ethnologische Fundierung, wie
das schon genannte Werk von Ludwig Büchner: Kraft und Stoff eindrücklich
dartut (Büchner 1876, 148 f.).
Seiner speziellen Kompetenz als Altphilologe entsprechend, vergleicht N.
in der Morgenröthe ethische Begriffe der Griechen immer wieder mit denen der
Christen, um seine Moralkritik zu untermauern und alle Moral als relativ, ja als
zweifelhaft darzustellen. „So haben die älteren Griechen", schreibt er in M 38,
„anders über den Neid empfunden, als wir; Hesiod zählt ihn unter den Wir-
kungen der guten, wohlthätigen Eris auf, und es hatte nichts Anstössiges,
den Göttern etwas Neidisches zuzuerkennen: begreiflich bei einem Zustande
der Dinge, dessen Seele der Wettstreit war; der Wettstreit aber war als gut fest-
gestellt und abgeschätzt. Ebenfalls waren die Griechen von uns verschieden in
der Abschätzung der Hoffnung: man empfand sie als blind und tückisch;
Hesiod hat das Stärkste über sie in einer Fabel angedeutet, und zwar etwas so
Befremdendes, dass kein neuerer Erklärer es verstanden hat, - denn es geht
wider den modernen Geist, welcher vom Christenthum her an die Hoffnung als
 
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