Überblickskommentar 43
der Macht" und auch den „Willen zur Macht" durchaus nicht nur in psycholo-
gischer und philosophischer Abstraktion meint, sondern auch bis zur konkre-
ten Verherrlichung imperialistischer Kriege mitsamt ihren Menschenopfern
treibt, zeigt ein Notat, das demjenigen zum „Willen zur Macht" unmittelbar
vorausgeht (NL 1880, 7[205], KSA 9, 360).
N. zielt nicht allein auf das mit einem Ausnahmestatus versehene große
Individuum, das er schon in den Frühschriften preist, er hebt vielmehr grund-
sätzlich den Wert des Individuums und des Individuellen hervor. In der als
Gegenreaktion auf die Frühschriften entstandenen ersten Aphorismen-Samm-
lung lenkt er das Interesse auf das ,Menschliche, Allzumenschliche'. Nunmehr
liegt ihm bereits in der Anfangspartie des Zweiten Buchs am „ego" (Μ 92), das
er in antimoralischer Absicht akzentuiert, denn die Moral geht über das Ich
hinaus, weil sie allgemeine, überindividuelle Verbindlichkeit beansprucht,
ebenso wie die Humanität, die sich der Menschheit im ganzen verpflichtet
weiß. Die Betonung der ganz „eigenen Bestimmung" des Individuums (Μ
104, 92, 19) und die gegen die „Mehrzahl" gerichtete Hervorhebung des „Ein-
zelnen" (Μ 105, 93, 17) gibt dem Ego einen prinzipiellen Vorrang. Wenn über-
haupt Ziele für die „Menschheit" erreicht werden sollen, dann sind sie N. zufol-
ge nur durch grundlegende individuelle Fragestellungen anzuvisieren. Doch
verhindert dies die „feierliche Anwesenheit, ja Allgegenwart moralischer Be-
fehle, welche der individuellen Frage nach dem Wozu? und dem Wie? gar
nicht gestattet, laut zu werden" (M 107, 95, 14-16). Obwohl N. sonst immer
wieder den menschlichen Anspruch auf „Glück", insbesondere denjenigen auf
das Glück aller entschieden ablehnt, will er das Glück, sofern es nur ein ganz
eigenes ist, für das Individuum reservieren: „Die Vorschriften, welche man
,moralisch' nennt, sind in Wahrheit gegen die Individuen gerichtet und wollen
durchaus nicht deren Glück" (Μ 108, 95, 26-28). N. lehnt zwar eine begriffliche
Definition des individuellen Glücks mit dem Hinweis auf das ganz Eigene und
geradezu mystisch Unerfindliche dieses Glücks ausdrücklich ab („denn das in-
dividuelle Glück quillt aus eigenen, Jedermann unbekannten Gesetzen; M 108,
95, 24 f.). Dann aber kritisiert er das Fehlen einer solchen Definition für das
„Glück und die Wohlfahrt der Menschheit" (95, 29 f.) als Defizit („mit welchen
Worten strenge Begriffe zu verbinden überhaupt nicht möglich ist"; 95, 30 f.).
Ein nachgelassenes Notat aus der Entstehungszeit der Morgenröthe lässt erken-
nen, dass N. das Glück des „Einzelnen" aus der Verachtung und Herabwürdi-
gung der „Anderen" herleitet und damit zu einer vom ,Gefühl' bestimmten Re-
lationsgröße macht, die auch seine spätere Rede von „Vornehmheit", „Adel"
und „Rang" auf ihr wahres Maß bringt: „Der Einzelne kann jetzt wirklich ein
Glück erreichen, das der Menschheit unmöglich ist. Ehemals Adel: jetzt gehört
nur dazu, daß man die Anderen als Sklaven fühlt, als unseren Dünger" (NL
1880/1881, 10[B51], KSA 9, 423).
der Macht" und auch den „Willen zur Macht" durchaus nicht nur in psycholo-
gischer und philosophischer Abstraktion meint, sondern auch bis zur konkre-
ten Verherrlichung imperialistischer Kriege mitsamt ihren Menschenopfern
treibt, zeigt ein Notat, das demjenigen zum „Willen zur Macht" unmittelbar
vorausgeht (NL 1880, 7[205], KSA 9, 360).
N. zielt nicht allein auf das mit einem Ausnahmestatus versehene große
Individuum, das er schon in den Frühschriften preist, er hebt vielmehr grund-
sätzlich den Wert des Individuums und des Individuellen hervor. In der als
Gegenreaktion auf die Frühschriften entstandenen ersten Aphorismen-Samm-
lung lenkt er das Interesse auf das ,Menschliche, Allzumenschliche'. Nunmehr
liegt ihm bereits in der Anfangspartie des Zweiten Buchs am „ego" (Μ 92), das
er in antimoralischer Absicht akzentuiert, denn die Moral geht über das Ich
hinaus, weil sie allgemeine, überindividuelle Verbindlichkeit beansprucht,
ebenso wie die Humanität, die sich der Menschheit im ganzen verpflichtet
weiß. Die Betonung der ganz „eigenen Bestimmung" des Individuums (Μ
104, 92, 19) und die gegen die „Mehrzahl" gerichtete Hervorhebung des „Ein-
zelnen" (Μ 105, 93, 17) gibt dem Ego einen prinzipiellen Vorrang. Wenn über-
haupt Ziele für die „Menschheit" erreicht werden sollen, dann sind sie N. zufol-
ge nur durch grundlegende individuelle Fragestellungen anzuvisieren. Doch
verhindert dies die „feierliche Anwesenheit, ja Allgegenwart moralischer Be-
fehle, welche der individuellen Frage nach dem Wozu? und dem Wie? gar
nicht gestattet, laut zu werden" (M 107, 95, 14-16). Obwohl N. sonst immer
wieder den menschlichen Anspruch auf „Glück", insbesondere denjenigen auf
das Glück aller entschieden ablehnt, will er das Glück, sofern es nur ein ganz
eigenes ist, für das Individuum reservieren: „Die Vorschriften, welche man
,moralisch' nennt, sind in Wahrheit gegen die Individuen gerichtet und wollen
durchaus nicht deren Glück" (Μ 108, 95, 26-28). N. lehnt zwar eine begriffliche
Definition des individuellen Glücks mit dem Hinweis auf das ganz Eigene und
geradezu mystisch Unerfindliche dieses Glücks ausdrücklich ab („denn das in-
dividuelle Glück quillt aus eigenen, Jedermann unbekannten Gesetzen; M 108,
95, 24 f.). Dann aber kritisiert er das Fehlen einer solchen Definition für das
„Glück und die Wohlfahrt der Menschheit" (95, 29 f.) als Defizit („mit welchen
Worten strenge Begriffe zu verbinden überhaupt nicht möglich ist"; 95, 30 f.).
Ein nachgelassenes Notat aus der Entstehungszeit der Morgenröthe lässt erken-
nen, dass N. das Glück des „Einzelnen" aus der Verachtung und Herabwürdi-
gung der „Anderen" herleitet und damit zu einer vom ,Gefühl' bestimmten Re-
lationsgröße macht, die auch seine spätere Rede von „Vornehmheit", „Adel"
und „Rang" auf ihr wahres Maß bringt: „Der Einzelne kann jetzt wirklich ein
Glück erreichen, das der Menschheit unmöglich ist. Ehemals Adel: jetzt gehört
nur dazu, daß man die Anderen als Sklaven fühlt, als unseren Dünger" (NL
1880/1881, 10[B51], KSA 9, 423).