Überblickskommentar 49
ein Schöner-sehen-wollen in Bezug auf Alles (Charaktere, Leidenschaften, Zei-
ten, Sitten), - leider ,schön' nach einem schlechten verschwommenen Ge-
schmack, der sich nichtsdestoweniger griechischer Abkunft rühmte. Es ist ein
weicher, gutartiger, silbern glitzernder Idealismus [...], beseelt vom herzlichs-
ten Widerwillen gegen die ,kalte' oder ,trockene' Wirklichkeit [...] zumal aber
gegen die Naturerkenntniss, sofern sie sich nicht zu einer religiösen Symbolik
gebrauchen liess" (163, 12-31).
N. gibt hier ein Echo auf die antimetaphysische, antiidealistische und anti-
klassizistische Wendung, welche die Positivisten, das Junge Deutschland, allen
voran Heinrich Heine, dann (der ihm nicht bekannte) Georg Büchner und
schließlich in N.s Zeit die Realisten vollzogen hatten. Nur Goethe und Schopen-
hauer nimmt er aus seiner pauschalen Abwertung der einstigen deutschen
„Bildung" aus.
Noch schärfer und zugleich übergreifender setzt sich N. mit der für die
Bildung maßgebenden traditionellen Erziehung in Μ 195 unter dem Titel „Die
sogenannte classische Erziehung" (168, 5) auseinander. Hier schlägt
er erstmals das Thema an, dem er sich dann im fünften Buch der Morgenröthe
vorrangig zuwendet: dem Wert der „Erkenntnis". Auf dem Hintergrund seiner
eigenen enttäuschenden Erfahrung als klassischer Philologe und der darauf
vorbereitenden Erziehung in Schulpforta gibt er der „Erkenntnis" den Vorzug
vor der klassischen „Bildung". Ausdrücklich spricht er von einem „Rückblick
auf den Weg des Lebens". Dabei entdecke man, „dass Etwas nicht wieder gut
zu machen ist: die Vergeudung unserer Jugend, als unsre Erzieher jene wissbe-
gierigen, heissen und durstigen Jahre nicht dazu verwandten, uns der Er-
kenntniss der Dinge entgegenzuführen, sondern der sogenannten ,classi-
schen Bildung'!" (168, 12-17) Nochmals nimmt er das Stichwort „Vergeudung
unserer Jugend" auf, indem er pointierend ausruft: „Die Vergeudung unserer
Jugend, als man uns ein dürftiges Wissen um Griechen und Römer und deren
Sprachen ebenso ungeschickt, als quälerisch beibrachte" (168, 17-20). Überein-
stimmend mit dem Aufschwung der Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts und mit den sich in der Folge anbahnenden neuen Wer-
tungen wendet N. nunmehr sein Interesse der „strengen Wissenschaft" zu
(169, 4), und rückblickend bedauert er: „Vielmehr blies uns der Hauch einer
gewissen Geringschätzung der eigentlichen Wissenschaften an, zu Gunsten der
Historie, der ,formalen Bildung' und der ,Classicität'!" (169, 5-8) In einer lan-
gen Reihe provozierender rhetorischer Fragen pointiert er die Defizite des tradi-
tionellen Bildungswesens und resümiert: „Nirgends ein wirkliches Können, ein
neues Vermögen als Ergebniss mühseliger Jahre! Sondern ein Wissen darum,
was ehemals Menschen gekonnt und vermocht haben!" (169, 28-31)
Ganz anders als noch in der Geburt der Tragödie, die unter dem Eindruck
der nationalistischen Wallungen während des deutsch-französischen Krieges
ein Schöner-sehen-wollen in Bezug auf Alles (Charaktere, Leidenschaften, Zei-
ten, Sitten), - leider ,schön' nach einem schlechten verschwommenen Ge-
schmack, der sich nichtsdestoweniger griechischer Abkunft rühmte. Es ist ein
weicher, gutartiger, silbern glitzernder Idealismus [...], beseelt vom herzlichs-
ten Widerwillen gegen die ,kalte' oder ,trockene' Wirklichkeit [...] zumal aber
gegen die Naturerkenntniss, sofern sie sich nicht zu einer religiösen Symbolik
gebrauchen liess" (163, 12-31).
N. gibt hier ein Echo auf die antimetaphysische, antiidealistische und anti-
klassizistische Wendung, welche die Positivisten, das Junge Deutschland, allen
voran Heinrich Heine, dann (der ihm nicht bekannte) Georg Büchner und
schließlich in N.s Zeit die Realisten vollzogen hatten. Nur Goethe und Schopen-
hauer nimmt er aus seiner pauschalen Abwertung der einstigen deutschen
„Bildung" aus.
Noch schärfer und zugleich übergreifender setzt sich N. mit der für die
Bildung maßgebenden traditionellen Erziehung in Μ 195 unter dem Titel „Die
sogenannte classische Erziehung" (168, 5) auseinander. Hier schlägt
er erstmals das Thema an, dem er sich dann im fünften Buch der Morgenröthe
vorrangig zuwendet: dem Wert der „Erkenntnis". Auf dem Hintergrund seiner
eigenen enttäuschenden Erfahrung als klassischer Philologe und der darauf
vorbereitenden Erziehung in Schulpforta gibt er der „Erkenntnis" den Vorzug
vor der klassischen „Bildung". Ausdrücklich spricht er von einem „Rückblick
auf den Weg des Lebens". Dabei entdecke man, „dass Etwas nicht wieder gut
zu machen ist: die Vergeudung unserer Jugend, als unsre Erzieher jene wissbe-
gierigen, heissen und durstigen Jahre nicht dazu verwandten, uns der Er-
kenntniss der Dinge entgegenzuführen, sondern der sogenannten ,classi-
schen Bildung'!" (168, 12-17) Nochmals nimmt er das Stichwort „Vergeudung
unserer Jugend" auf, indem er pointierend ausruft: „Die Vergeudung unserer
Jugend, als man uns ein dürftiges Wissen um Griechen und Römer und deren
Sprachen ebenso ungeschickt, als quälerisch beibrachte" (168, 17-20). Überein-
stimmend mit dem Aufschwung der Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts und mit den sich in der Folge anbahnenden neuen Wer-
tungen wendet N. nunmehr sein Interesse der „strengen Wissenschaft" zu
(169, 4), und rückblickend bedauert er: „Vielmehr blies uns der Hauch einer
gewissen Geringschätzung der eigentlichen Wissenschaften an, zu Gunsten der
Historie, der ,formalen Bildung' und der ,Classicität'!" (169, 5-8) In einer lan-
gen Reihe provozierender rhetorischer Fragen pointiert er die Defizite des tradi-
tionellen Bildungswesens und resümiert: „Nirgends ein wirkliches Können, ein
neues Vermögen als Ergebniss mühseliger Jahre! Sondern ein Wissen darum,
was ehemals Menschen gekonnt und vermocht haben!" (169, 28-31)
Ganz anders als noch in der Geburt der Tragödie, die unter dem Eindruck
der nationalistischen Wallungen während des deutsch-französischen Krieges