Metadaten

Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0070
Lizenz: In Copyright

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Überblickskommentar 55

physiologie, l'analyse des idees et la morale ne sont que les trois branches
d'une seule et meme science qui peut s'appeler ä juste titre la science de l'hom-
me‘ / Die Grundzüge der Beweisführung liegen in der zweiten und dritten Ab-
handlung, welche unter der gemeinsamen Ueberschrift: ,Histoire physiologi-
que des Sensations' zusammengefaßt sind. Sie laufen im Wesentlichen darauf
hinaus, daß, wie das gesammte Leben nichts ist als eine unablässige Folge von
Bewegungen, welche von den verschiedenen einzelnen Organen ausgehen, so
insbesondere die Verrichtungen und Zustände der Seele und des Geistes nichts
als Bewegungen und Empfindungen der Nerven und des Gehirns sind. Die Ner-
ven, mit dem Gehirn zusammenhängend und aus demselben Stoff gebildet,
verästen und verzweigen sich über alle Theile des Körpers, so daß jeder emp-
findende Punkt seine Nervenfaser hat und vermittelst derselben mit dem Ge-
hirn in Verbindung steht. Die Nerven sind daher die eigentlichen Träger der
allgemeinen Empfindungsfähigkeit oder Sensibilität'." (Hettner 1860, 363 f.) N.
hat, wie vermittelt auch immer, gerade diese physiologisch zentrale Bedeutung
der „Nerven" bis in einzelne Texte der Morgenröthe hinein übernommen. Hett-
ner resümiert die weltanschaulichen Konsequenzen dieser physiologischen
Analyse: „Auch die letzten Schranken sind gefallen. Les nerfs - voilä tout
l'homme. Die Seele ist eine Fähigkeit, nicht ein Wesen, une faculte mais non
pas un etre. / Wie der Mensch, so sein Gott. Die Ordnung Gottes ist nichts
anderes als die notwendige Weltordnung, das Naturgesetz der Materie. ,Tous
les phenomenes de l'univers ont ete, sont et seront toujours la consequence
des proprietes de la matiere ou des lois qui regissent tous les etres. C'est par
ces proprietes et par ces lois que la cause premiere se manifeste ä nous'." (Hett-
ner 1860, 366)
Für seine persönliche Bibliothek erwarb N. Werke, die sich diversen ,Phy-
siologien' widmeten, darunter die ins Deutsche übersetzten zeitgenössischen
Erfolgsbücher von Paolo Mantegazza, Professor für Anthropologie an der Uni-
versität Florenz (NPB 376). Schon in seinem 1819 erschienenen Hauptwerk Die
Welt als Wille und Vorstellung zeigte Schopenhauer eine ausgeprägte Vorliebe
für physiologische Voraussetzungen im geistigen Bereich und entwickelte eine
regelrechte ,Philosophie des Leibes'. Schließlich verfasste er sogar eine „Meta-
physik der Geschlechtsliebe". Bereits im programmatischen ersten Kapitel sei-
ner Geburt der Tragödie übernimmt N. von seiner philosophischen Leitfigur
Schopenhauer das Interesse für physiologisch zu erklärende geistig-psychische
Erfahrungen. Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allgemein ein natu-
ralistisches Menschen- und Weltverständnis vordrang, beförderte dies die in
der Jahrhundertmitte beginnende Schopenhauer-Konjunktur. Zugleich bot sich
eine Aktualisierung der desillusionierenden psycho-physiologischen Moralistik
der Aufklärung an. Bereits der von N. hochgeschätzte Stendhal hatte sie fortge-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften